Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
zunächst für Asche hielt. Allerdings schimmerte das Pulver dafür zu hell - fast im selben silberglänzenden Ton wie Jems Augen.
»Dies ist die Substanz«, erklärte er. »Wir beziehen sie von einem befreundeten Hexenmeister in Limehouse. Ich muss jeden Tag etwas davon einnehmen. Das ist der Grund, weshalb ich so ... so gespenstisch aussehe; das Gift entzieht meinen Augen und Haaren und sogar meiner Haut jegliche Farbe. Manchmal frage ich mich, ob meine Eltern mich überhaupt noch erkennen würden ...« Er verstummte und räusperte sich schließlich. »Vor einem Kampf nehme ich eine größere Menge als üblich ein. Eine geringere Dosierung hingegen schwächt mich. Und als wir vorhin zu unserem Abendspaziergang aufgebrochen sind, hatte ich noch gar nichts von der Substanz zu mir genommen. Aus diesem Grund bin ich zusammengebrochen. Nicht wegen der Klockwerk-Kreaturen, sondern wegen des Gifts. Ohne dieses Mittel ist mir das Ganze - der Kampf, die anschließende Flucht - einfach zu viel geworden ... Mein Körper musste an seine eigenen Reserven gehen und deshalb bin ich kollabiert.« Mit einem lauten Schnappen schloss er das Kästchen und reichte es Tessa. »Hier. Bitte stell es wieder zurück an seinen Platz.«
»Brauchst du denn jetzt nichts?«
»Nein. Ich habe für heute Abend genug eingenommen.«
»Du hast gesagt, das Gift bedeute ein langes Dahinsiechen. Heißt das, dass diese Substanz dich letztendlich umbringt?«, fragte Tessa. Jem nickte und eine silberhelle Haarsträhne fiel ihm in die Stirn. Seine Bestätigung versetzte Tessa einen Stich ins Herz. »Und vor einem Kampf nimmst du eine höhere Dosierung? Warum hörst du dann nicht einfach auf und beteiligst dich nicht länger an den Kämpfen? Will und die anderen ...«
»... würden das verstehen«, beendete Jem ihren Satz. »Ich weiß, dass sie das verstehen würden. Aber das Leben dreht sich um mehr als nur um den Tod. Ich bin ein Schattenjäger. Das ist nicht bloß irgendeine Tätigkeit, sondern macht mich zu dem, was ich bin. Ohne das kann ich nicht leben.«
»Du meinst, du willst nicht«, bemerkte Tessa. Wenn sie so etwas zu Will gesagt hätte, wäre er bestimmt wütend geworden, überlegte sie.
Doch Jem betrachtete sie lediglich konzentriert. »Nein - ich möchte es nicht. Ich habe viele Jahre lang nach einem Heilmittel gesucht, doch irgendwann beschlossen, die Suche aufzugeben. Also habe ich Will und die anderen gebeten, ihre Bemühungen ebenfalls einzustellen. Ich bin ich selbst und nicht diese Substanz oder die Sucht, die mich in ihren Klauen hält. Ich glaube, dass ich Besseres zu bieten habe und dass mein Leben Besseres zu bieten hat - ganz gleich, wie und wann es eines Tages enden mag.«
»Nun ja, ich möchte aber nicht, dass du stirbst«, warf Tessa ein. »Ich weiß nicht, warum dieses Gefühl so intensiv ist, denn schließlich sind wir uns gerade erst begegnet, aber ich will dich nicht sterben sehen.«
»Und ich vertraue dir«, erwiderte Jem. »Auch ich weiß nicht, warum, aber ich vertraue dir.« Seine dünnen Hände umklammerten nicht länger das Kissen, sondern lagen entspannt und ruhig auf dem gestreiften Gewebe.
Tessa sah, dass seine Fingerknöchel ein klein wenig zu dick für die schlanken Finger waren und dass auf seinem rechten Daumen eine breite weiße Narbe prangte. Wie gern hätte sie ihre eigene Hand über seine gelegt, sie festgehalten, um ihm Trost zu spenden ...
»Wie rührend«, drang eine Stimme von der Tür zu ihnen - Will natürlich, der geräuschlos ins Zimmer getreten war. Er hatte sein blutverschmiertes Hemd gewechselt und sich offenbar hastig gewaschen: Seine Haare glänzten feucht und sein Gesicht war frisch geschrubbt, obwohl noch immer Dreck und Öl unter seinen Fingernägeln schimmerten. Langsam schaute er von Jem zu Tessa, mit sorgsam ausdrucksloser Miene. »Wie ich sehe, hast du es ihr erzählt.«
»Ja, das habe ich.« In Jems Stimme lag nichts Provozierendes. Er betrachtete Will stets voller Zuneigung, dachte Tessa - ganz gleich, wie streitlustig Will sich auch verhalten mochte. »Ich habe ihr alles erzählt. Es besteht also kein Grund, sich noch Sorgen zu machen.«
»Da bin ich anderer Meinung«, widersprach Will und warf Tessa einen demonstrativen Blick zu.
Tessa erinnerte sich an seine Mahnung, Jem nicht zu überanstrengen, und erhob sich von ihrem Stuhl.
Jem betrachtete sie wehmütig: »Musst du wirklich schon fort? Ich hatte gehofft, du könntest hierbleiben und mein barmherziger Engel sein. Aber
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