Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
schon kaum darin zurechtfand, wie sollte Nate erst ...
»Miss Gray?«
Tessa drehte sich um und sah Thomas, der aus einer der endlosen Türen getreten war. Statt einer Weste trug er nur ein Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln; seine Haare standen in alle Richtungen vom Kopf ab und seine braunen Augen schauten sehr ernst. Tessa spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte. Oh, Gott, er hat schlechte Nachrichten. »Ja, Thomas?«
»Ich hab Ihren Bruder gefunden«, erklärte Thomas zu Tessas Überraschung.
»Wirklich? Aber wo war er denn?«
»Im Salon. Hatte sich 'ne Art Versteck gesucht, hinter den Vorhängen«, sprudelte Thomas hastig hervor und zog eine verlegene Miene. »Kaum hat er mich gesehen, ist er auch schon durchgedreht und hat geschrien und geflucht. Und dann hat er versucht, an mir vorbeizukommen, und ich musste ihm fast eins überbraten, damit er endlich Ruhe gab ...« Als er Tessas verständnislosen Blick sah, hielt er einen Moment inne und räusperte sich dann. »Das soll heißen: Ich fürchte, ich habe ihm möglicherweise einen großen Schrecken eingejagt, Miss.«
Bestürzt schlug Tessa eine Hand vor den Mund. »Oje ... Aber es geht ihm gut?«
Es hatte den Anschein, dass Thomas nicht ganz wusste, wohin er schauen sollte. Offenbar war es ihm peinlich, dass er Nate hinter Charlottes Vorhängen kauernd vorgefunden hatte, dachte Tessa und spürte eine Woge der Empörung aufkommen. Schließlich war ihr Bruder kein Schattenjäger - er hatte nicht von Kindesbeinen an gelernt, irgendwelche Monster zu töten und ständig sein Leben zu riskieren. Da war es doch nur natürlich, dass er sich zu Tode fürchtete. Und wahrscheinlich litt er obendrein unter Fieberwahn und Halluzinationen. »Ich sollte besser zu ihm gehen. Aber nur ich allein, hast du verstanden? Vermutlich muss er einfach nur ein vertrautes Gesicht sehen«, sagte Tessa kühl.
Thomas wirkte erleichtert. »Ja, Miss. Ich warte hier draußen - allein. Geben Sie mir einfach Bescheid, wenn ich die anderen herbeiholen soll.«
Tessa nickte, schob sich an Thomas vorbei und drückte die Tür auf. Im Salon war es dämmrig; durch die hohen Fenster fiel nur das graue Licht des Nachmittagshimmels. Die Sofas und Sessel, die über den halbdunklen Raum verteilt waren, wirkten wie kauernde, zum Sprung bereite Kreaturen. Nate saß in einem der ausladenden Sessel vor dem Kamin. Offenbar hatte er die blutbefleckten Kleidungsstücke gefunden, die er bei de Quincey getragen hatte, und wieder übergestreift. Seine Füße waren nackt. Er hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt, sein Gesicht in die Hände gelegt und wirkte zutiefst unglücklich.
»Nate?«, fragte Tessa leise.
Sofort schaute er auf, sprang aus dem Sessel und ein Ausdruck unglaublicher Freude breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Tessie!«
Vor Erleichterung stieß Tessa einen kleinen Schrei aus. Dann eilte sie quer durch den Raum, schlang die Arme um ihren Bruder und drückte ihn fest an sich. Sie hörte, wie er schmerzhaft aufstöhnte, doch dann schloss auch er sie in die Arme, und einen kurzen Moment fühlte Tessa sich wieder in die kleine Küche in New York zurückversetzt - umgeben vom köstlichen Duft warmen Gebäcks und dem leisen Lachen ihrer Tante, die sie und Nate gutmütig tadelte, weil sie beide zu viel Lärm machten.
Nate löste sich als Erster aus der Umarmung und betrachtete seine Schwester von Kopf bis Fuß. »Du meine Güte, Tessie, du siehst so verändert aus ...«
Ein Schauer durchzuckte Tessas Körper. »Wie meinst du das?« Nachdenklich, fast geistesabwesend tätschelte er ihre Wange. »Älter«, sagte er schließlich. »Dünner. Als ich aus New York fortging, warst du ein kleines, pausbäckiges Mädchen, stimmt's? Oder habe ich dich vielleicht nur so in Erinnerung?«
Während Tessa ihm versicherte, dass sie immer noch dieselbe kleine Schwester war, die er immer gekannt hatte, beschäftigte sich ihr Geist bereits mit einer anderen Frage. Besorgt musterte sie ihren Bruder: Er wirkte zwar nicht mehr so aschfahl wie zuvor, war aber noch immer ziemlich blass und die Blutergüsse im Gesicht und am Hals schillerten in allen Farben. »Nate ...«
»Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht«, beruhigte er sie, als er die Sorge in ihren Augen bemerkte.
»Doch, das ist es sehr wohl. Du solltest im Bett liegen und dich ausruhen«, widersprach Tessa. »Was, um Himmels willen, tust du hier?«
»Ich hab versucht, dich zu finden - schließlich wusste ich doch, dass du hier irgendwo sein musstest.
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