Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
euch.
Jem legte eine Hand auf die Tür, zögerte und schaute dann zu Tessa. »Vielleicht solltest du erst einen Moment allein mit Jessamine reden. Von Frau zu Frau.«
Tessa musterte ihn erschreckt. »Meinst du wirklich? Du kennst sie doch viel besser als ich ...«
»Aber du kennst Nate«, erklärte Jem und wandte kurz den Blick ab.
Irgendwie hatte Tessa das Gefühl, dass er ihr etwas verschwieg. Und dieses Gefühl war sie von Jem so wenig gewohnt, dass sie nicht sicher wusste, wie sie reagieren sollte.
»Ich komme gleich nach, sobald du Jessamine ein wenig beruhigt hast«, fügte er hinzu.
Tessa nickte langsam. Während Bruder Enoch die Tür aufschwang, holte sie kurz Luft und betrat dann die Zelle, wobei sie ein wenig zusammenzuckte, als die schwere Tür krachend hinter ihr ins Schloss fiel.
Der Raum war winzig, genau wie die anderen Zellen. An einer der Steinmauern stand ein Waschtisch und davor lagen zahlreiche Porzellanscherben, vermutlich die Überreste eines Wasserkrugs. Als hätte jemand ihn mit großer Wucht gegen die Wand geschleudert.
Auf dem schmalen Bett saß Jessamine in einem schlichten weißen Gewand, eine grobe Decke um die Schultern gewickelt. Ihre blonden Locken hingen ihr in wirren Strähnen über den Rücken und ihre Augen waren gerötet. »Willkommen. Nettes Plätzchen zum Leben, findest du nicht?«, sagte sie zur Begrüßung. Ihre Stimme klang belegt, als wäre ihre Kehle vom vielen Weinen aufgeraut. Sie warf Tessa einen Blick zu und fragte dann mit zitternder Unterlippe: »Hat ... hat Charlotte dich geschickt, um mich hier rauszuholen?«
Tessa schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Aber ...« Jessamine schossen Tränen in die Augen. »Sie kann mich doch nicht hier vergammeln lassen. Ich kann sie hören ... die ganze Nacht kann ich sie hören.« Die Schattenjägerin schauderte und zog die Decke fester um ihre Schultern.
»Wen kannst du hören?«
»Die Toten«, stieß Jessamine hervor. »Wie sie in ihren Gräbern wispern. Wenn ich lange genug hier unten bleibe, werde ich mich bald zu ihnen gesellen. Das weiß ich genau.«
Tessa setzte sich auf die Bettkante und berührte vorsichtig Jessamines Haar, strich ihr behutsam über die verfilzten Strähnen. »Das wird nicht geschehen«, sagte sie, woraufhin Jessamine so heftig zu schluchzen begann, dass ihre Schultern bebten. Hilflos schaute Tessa sich in der Zelle um, als ob ihr irgendetwas in dem schäbigen Raum weiterhelfen könnte. »Jessamine«, sagte sie leise. »Ich habe dir etwas mitgebracht.«
Langsam hob das Mädchen das Gesicht. »Von Nate?«
»Nein«, erwiderte Tessa sanft, »etwas, das dir gehört.« Sie griff in ihre Tasche, holte etwas daraus hervor und streckte Jessamine die Hand entgegen. Auf ihrer Handfläche lag eine winzige Babypuppe, die sie aus der Krippe in Jessamines Puppenhaus genommen hatte. »Klein Jessie.«
Ein leises »Oh« brach tief aus Jessamines Kehle hervor. Dann riss sie die Puppe an sich und drückte sie fest an ihre Brust. Erneut flossen ihre Augen über und die Tränen zogen eine feuchte Spur in den Schmutz auf ihren Wangen. Sie bot wirklich einen äußerst bemitleidenswerten Anblick, überlegte Tessa. Wenn sie doch nur ...
»Jessamine«, setzte Tessa erneut an. Sie hatte den Eindruck, als wäre das Mädchen wie ein verängstigtes Tier, das beruhigt werden musste, und es erschien ihr, als könnte das sanfte Wiederholen ihres Namens irgendwie dazu beitragen. »Jessamine, wir brauchen deine Hilfe.«
»Um Nate zu hintergehen«, brauste die junge Schattenjägerin auf. »Aber ich weiß nichts. Ich weiß ja nicht einmal, warum ich hier bin.«
»Doch, das weißt du sehr wohl«, ertönte Jems Stimme von der Zellentür. Sein Gesicht war gerötet und er wirkte etwas kurzatmig, als wäre er gelaufen. Er warf Tessa einen verschwörerischen Blick zu und schloss dann die Tür hinter sich. »Du weißt genau, warum du hier bist, Jessie ...«
»Weil ich mich verliebt habe!«, fauchte Jessamine. » Du solltest doch eigentlich wissen, wie sich das anfühlt. Ich hab gesehen, auf welche Weise du Tessa immer anschaust.« Sie bedachte Tessa, deren Wangen rot angelaufen waren, mit einem giftigen Blick. »Wenigstens ist Nate ein Mensch.«
Doch Jem ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Ich habe das Institut aber nicht wegen Tessa hintergangen«, erwiderte er. »Ich habe diejenigen, die sich seit dem Tod meiner Eltern um mich gekümmert haben, nicht belogen und in Gefahr gebracht.«
»Wenn du dazu nicht bereit bist, liebst
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