Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
verzeihen«, erwiderte Jem ernst.
Da Tessa in Jessamines Richtung schaute, konnte sie den Ausdruck auf seinem Gesicht nicht sehen, aber sie spürte, wie ihr einen Moment lang das Herz stockte. Und sie wagte es nicht, sich zu Jem umzudrehen, aus Furcht, ihre eigene Miene würde ihre Gefühle verraten. »Jessie, bitte«, sagte sie stattdessen.
Jessamine schwieg eine ganze Weile, und als sie sich schließlich räusperte, klang ihre Stimme angespannt und dünn. »Vermutlich willst du dich an meiner Stelle mit ihm treffen, in meiner Gestalt.«
Tessa nickte.
»Dann solltest du Männerkleidung tragen«, sagte Jessamine. »Wenn ich mich nachts mit ihm treffe, gehe ich immer als Mann getarnt. Auf diese Weise kann ich mich gefahrlos durch die Straßen bewegen. Nate wird mit dieser Kleidung rechnen.« Dann schaute sie auf und schob sich die verfilzten Haare aus dem Gesicht. »Hast du Stift und Papier dabei?«, fragte sie. »Ich werde die Nachricht aufsetzen.« Sie nahm die Schreibutensilien entgegen, die ihr Jem reichte, und begann zu schreiben. »Hierfür sollte ich eine Gegenleistung erhalten«, sagte sie. »Wenn die Brüder mich nicht freilassen ...«
»Das werden sie nicht tun«, erklärte Jem, »zumindest nicht, solange nicht klar ist, dass deine Informationen etwas taugen.«
»Dann sollten sie mir wenigstens bessere Verpflegung geben. Das Essen ist hier schrecklich. Nur Haferschleim und hartes Brot.« Nachdem Jessamine die Nachricht verfasst hatte, reichte sie Tessa den Zettel. »Die Männerkleidung, die ich immer trage, liegt hinter meinem Puppenhaus. Aber sei vorsichtig, wenn du es verschiebst«, fügte sie hinzu und einen Moment lang war sie wieder sie selbst - das stolze Mädchen mit dem hochmütigen Ausdruck in den Augen. »Und wenn es sein muss, kannst du auch ein paar meiner Kleidungsstücke leihen. Du trägst die vier Kleider, die ich dir im Juni gekauft habe, ja rund um die Uhr. Das gelbe dürfte inzwischen regelrecht antik sein. Und wenn du nicht willst, dass irgendjemand erfährt, dass du in einer Kutsche geknutscht hast, solltest du darauf verzichten, Hüte mit leicht zu zerknitternden Seidenblumen zu tragen. Die Leute sind schließlich nicht blind.«
»Was du nicht sagst«, erwiderte Jem mit großem Ernst, und als Tessa ihm einen Blick zuwarf, lächelte er - nur für sie.
15
TAUSEND WEITRE
Jene Blumen umgibt ein schreckliches Flair;
Diese, geknickt in meiner Hand, ward mitgerissen,
Er warf sie hinab; sie lebt keine Stunde mehr;
Tausend weitre warten; man wird keine Rose missen.
CHARLOTTE MEW,
»IN NUNHEAD CEMETERY«
Der Rest des Tages verging in großer Anspannung, da sich die Schattenjäger auf die Konfrontation mit Nate am Abend vorbereiteten. Statt formale Mahlzeiten im Speisezimmer zu arrangieren, schleppte Bridget - wie immer mit einem melancholischen Lied auf den Lippen - schwer beladene Tabletts mit Sandwiches und Tee durch die Korridore, während in allen Räumen Waffen poliert, Kampfausrüstungen angelegt und Landkarten zu Rate gezogen wurden.
Wenn Sophie sie nicht aufgefordert hätte, wenigstens »eine Kleinigkeit« zu essen, hätte Tessa vermutlich gar nichts zu sich genommen; denn ihre Kehle war wie zugeschnürt und sie bekam nur ein paar Bissen hinunter, ehe sie auch schon das Gefühl hatte, das Sandwich würde ihr im Halse stecken bleiben.
Heute Abend werde ich Nate Wiedersehen, dachte sie und starrte in den Spiegel, während Sophie zu ihren Füßen kniete und ihr die Stiefel schnürte - Herrenstiefel aus Jessamines verborgener Schatzkiste mit Männerkleidung.
Und dann werde ich ihn verraten.
Tessas Gedanken kehrten zu jenem Abend zurück, als Nate in der Kutsche auf dem Rückweg von de Quinceys Villa bei ihr auf dem Schoß gelegen hatte. Sie erinnerte sich, wie er später ihren Namen geschrien und sich an sie geklammert hatte, als Bruder Enoch das Zimmer betrat, und sie fragte sich nun, wie viel davon wohl Show gewesen war. Vermutlich war Nate zumindest teilweise aufrichtig erschüttert gewesen - von Mortmain im Stich gelassen, von de Quincey gehasst, in den Händen von Schattenjägern, denen zu trauen er nicht den geringsten Anlass sah.
Obwohl Tessa ihm natürlich versichert hatte, dass die Nephilim vertrauenswürdig waren. Aber das kümmerte Nate nicht: Ihn interessierte nur das, was Mortmain ihm bot. Mehr als die Sicherheit seiner eigenen Schwester. Mehr als alles andere auf der Welt. All die gemeinsamen Jahre, die sie als Geschwister so miteinander verschweißt hatten, dass
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