Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
Möchte sie es auch?«
Tessa schenkte ihm ein Lächeln. »Ja, sie möchte.«
Einen Moment später - Tessa hätte nicht sagen können, wie es geschah - küsste Jem sie, sein Mund weich auf ihren Lippen, seine Hand behutsam an ihrer Wange. Tessa hörte ein leises Rascheln und erkannte, dass es sich um das Knistern der Seidenblumen auf ihrem Hut handelte, die gegen die Kutschwand gedrückt wurden, als Jems Körper sich fest an ihren drängte. Und dann klammerte sie sich an die Aufschläge seines Mantels - um ihn ganz nah an sich heranzuziehen, aber auch, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.
Plötzlich hielt die Kutsche an. Jem löste sich von Tessa und zog sich zurück, einen glasigen Ausdruck in den Augen. »Beim Erzengel«, keuchte er. »Vielleicht brauchen wir wirklich eine Anstandsdame.«
»Jem, ich ...« Benommen schüttelte Tessa den Kopf.
Auch Jem konnte die Verwirrung nicht so schnell abschütteln. »Ich glaube, ich sollte mich besser auf die andere Seite setzen«, murmelte er und kletterte wieder auf den gegenüberliegenden Sitz.
Tessa warf einen raschen Blick zum Fenster; durch den Spalt zwischen den Vorhängen sah sie den Gebäudekomplex der Houses of Parliament, der vor ihnen aufragte und dessen Türme sich dunkel vor dem aufklarenden Himmel abzeichneten. Der Regen hatte inzwischen nachgelassen. Tessa wusste nicht, warum die Kutsche angehalten hatte, doch einen Moment später setzte sie sich erneut in Bewegung und steuerte direkt auf eine Art schwarze Grube zu, die sich vor ihnen scheinbar im Boden öffnete. Dieses Mal wusste sie Bescheid und keuchte nicht überrascht auf. Dunkelheit umfing sie - und dann rollten sie auch schon in den großen Sitzungssaal mit den schwarzen Basaltwänden und den brennenden Fackeln, den sie von der Ratsversammlung kannte.
Die Kutsche kam zum Stehen und der Schlag wurde aufgerissen. Mehrere Brüder der Stille erwarteten sie, angeführt von Bruder Enoch, der von zwei weiteren Brüdern mit Elbenlichtfackeln flankiert wurde. Sämtliche Brüder hatten die Kapuzen zurückgeschlagen und Tessa konnte erkennen, dass sie ebenfalls blind waren, obwohl nur bei einem von ihnen die Augen ganz zu fehlen schienen, ähnlich wie bei Bruder Enoch. Die anderen hatten die Augen geschlossen, mit schwarzen Runen auf den Lidern. Doch bei ausnahmslos allen waren die Lippen mit dunklen Linien versehen, als wären sie zugenäht worden.
Wir heißen dich ein weiteres Mal in der Stadt der Stille willkommen, Tochter der Lilith, begrüßte Bruder Enoch Tessa.
Einen kurzen Augenblick hätte Tessa am liebsten hinter sich gegriffen, um Jems warme Hand zu spüren und sich aus der Kutsche helfen zu lassen. Aber dann dachte sie an Charlotte. Charlotte, die so klein und doch so stark war und niemanden brauchte, um sie zu stützen. Entschlossen fasste sie sich ein Herz und kletterte allein die Stufen hinunter, bis die Absätze ihrer Stiefel auf dem Basaltboden widerhallten. »Vielen Dank, Bruder Enoch«, sagte sie. »Wir sind hier, um Jessamine Lovelace zu besuchen. Würden Sie uns bitte zu ihr bringen?«
Der Zellentrakt der Stillen Stadt befand sich ein Geschoss tiefer, unterhalb des Platzes mit den Sprechenden Sternen. Eine dunkle Stiege führte hinunter. Die Brüder der Stille gingen voran, dicht gefolgt von Jem und Tessa, die seit dem Verlassen der Kutsche kein Wort mehr miteinander gewechselt hatten. Allerdings handelte es sich nicht um ein betretenes Schweigen: Die Stadt der Gebeine strahlte mit ihren wuchtigen Mausoleen und hoch aufragenden Steinbögen eine eindringliche Erhabenheit aus, die Tessa an ein Museum oder eine Kirche erinnerte, wo man sich als Besucher nur gedämpft unterhielt.
Am Fuß der Treppe teilte sich der Gang; die Brüder wandten sich nach links und führten Jem und Tessa fast bis zum Ende des Korridors. Auf dem Weg dorthin passierten sie eine ganze Reihe kleiner Zellen, allesamt mit einer verriegelten Gittertür versehen. Durch die Stäbe konnte Tessa jeweils ein Bett und einen Waschtisch erkennen - und sonst nichts. Das raue Mauerwerk verströmte einen feuchten, modrigen Geruch und Tessa fragte sich, ob sie sich wohl unterhalb der Themse befanden oder eher an einem ganz anderen Ort.
Vor der vorletzten Tür im Gang hielten die Brüder inne. Bruder Enoch berührte kurz das Vorhängeschloss, das sich mit einem Klicken öffnete und die Kette freigab.
Ihr dürft jetzt eintreten, verkündete Enoch und bewegte sich einen Schritt zur Seite. Wir warten hier draußen auf
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