Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
erwiderte Gabriel, aus dessen Stimme Verbitterung und Verzweiflung sprachen. »Wer soll unser Anwesen verwalten, wer den Sitz im Rat ...«
»Ich weiß es nicht«, erklärte Gideon. »Aber das heißt nicht, dass du notwendigerweise derjenige sein musst. Das Gesetz ...«
Doch Gabriel schüttelte den Kopf und entgegnete mit brüchiger Stimme: »Blut kommt vor Recht, Gideon.« Einen Moment trafen sich die Blicke der Brüder, dann schaute Gabriel weg, biss sich auf die Lippen und stellte sich hinter seinen Vater, eine Hand auf der Rückenlehne des schweren Eichenstuhls.
Ein Lächeln zeichnete sich auf Benedicts Gesicht ab - wenigstens in dieser Hinsicht hatte er gesiegt.
Charlotte erhob sich, das Kinn entschlossen in die Höhe gereckt. »Ich darf wohl davon ausgehen, dass wir uns am Sonntag im Sitzungssaal sehen, Benedict - und dass du weißt, was du zu tun hast«, beschied sie ihm und rauschte dann aus dem Raum, dicht gefolgt von Gideon und Tessa. Nur Will zögerte noch einen Moment an der Tür und schaute zu Gabriel. Doch als dieser nicht aufblickte, zuckte Will schließlich die Achseln und folgte den anderen hinaus, wobei er die Tür der Bibliothek fest hinter sich zuzog.
Schweigend fuhren sie zum Institut zurück, während der Regen gegen die Scheiben der Kutsche prasselte. Charlotte bemühte sich mehrfach, mit Gideon ins Gespräch zu kommen, doch er blieb stumm und schaute starr aus dem Fenster, auf die nassen Straßen und die verschwommene Umgebung. Tessa vermochte nicht zu sagen, ob er wütend war oder aber seine Vorgehensweise bedauerte oder möglicherweise sogar Erleichterung empfand. Er wirkte unbewegt und ruhig, so wie stets - selbst als Charlotte ihm erklärte, dass im Institut immer Platz für ihn sei und sie ihre Dankbarkeit für das, was er getan habe, kaum zum Ausdruck bringen könne. Nach einer Weile, als sie gerade in den Strand einbogen, sagte er schließlich: »Ich hatte wirklich gedacht, Gabriel würde sich mir anschließen. Nachdem er von Mortmain erfahren hatte ...«
»Er versteht das alles noch nicht richtig«, erklärte Charlotte. »Gib ihm etwas Zeit.«
»Woher hast du denn davon gewusst?« Will musterte Gideon neugierig. »Wir hatten doch selbst gerade erst herausgefunden, was mit deiner Mutter geschehen war. Und Sophie meinte, du hättest keine Ahnung ...«
»Ich hatte Cyril beauftragt, zwei Nachrichten zuzustellen«, erläuterte Charlotte. »Eine für Benedict und eine für Gideon.«
»Er hat sie mir rasch in die Hand gedrückt, als mein Vater gerade nicht hinsah«, fügte Gideon hinzu. »Ich konnte die Nachricht gerade noch lesen, bevor ihr auch schon hereinkamt.«
»Und du hast uns geglaubt?«, fragte Tessa. »Einfach so?«
Erneut schaute Gideon aus dem regennassen Fenster; ein Muskel an seinem Kiefer zuckte. »Vaters Geschichte über den Tod unserer Mutter hat für mich nie einen Sinn ergeben. Im Gegensatz zu Charlottes Nachricht.«
Eingekeilt in der engen Kutsche und nur wenige Zentimeter von Gideon entfernt, verspürte Tessa plötzlich das merkwürdige Bedürfnis, sich zu ihm vorzubeugen und ihm mitzuteilen, dass auch sie einen Bruder gehabt hatte, den sie geliebt und dann verloren hatte. Dass sie verstehen würde ... Mittlerweile konnte sie erkennen, was Sophie so an Gideon schätzte: die Verwundbarkeit unter der äußerlich gelassenen Haltung, die aufrechte Ehrlichkeit in seinen attraktiven Augen. Aber nach einem Moment beschloss sie zu schweigen, denn sie spürte, dass ihre Worte nicht willkommen sein würden.
Will dagegen, der neben ihr saß, wirkte in der Zwischenzeit wie ein ganzes Bündel aufgestauter Energie. Hin und wieder bemerkte sie, wie seine blauen Augen ihr einen Blick zuwarfen und wie er ihr ein Lächeln schenkte, ein überraschend liebes Lächeln, das fast schon ausgelassen wirkte - eine Eigenschaft, die sie mit Will bisher nicht in Verbindung gebracht hatte. Es schien, als würde er einen Witz mit ihr teilen, den nur sie beide verstanden. Das Problem war nur, dass Tessa nicht wusste, um welchen Witz es sich dabei handeln sollte. Dennoch übertrug sich seine nervöse Aufregung derartig auf sie, dass ihre eigene ruhige Gelassenheit - oder das, was bis dahin noch davon übrig war - vollständig dahingeschwunden war, als sie endlich das Institut erreichten.
Kurz darauf kam Cyril - bis auf die Haut durchnässt, aber freundlich wie immer - um die Kutsche herum, öffnete den Schlag und half zuerst Charlotte und dann Tessa beim Aussteigen. Eine Sekunde später war
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