Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
anderen sterben würden. Anfangs war mir nicht bewusst, dass ich hier im Institut eine zweite Familie vorfinden würde. Henry, Charlotte, selbst die verflixte Jessamine ... Ich musste einfach sicherstellen, dass niemand mich jemals lieben würde, denn andernfalls würde ich denjenigen in tödliche Gefahr bringen. Also habe ich jahrelang jeden auf Abstand gehalten - jeden, den ich nicht gänzlich vertreiben konnte.«
Sprachlos starrte Tessa ihn an. Die Worte hallten durch ihren Kopf: Jeden auf Abstand gehalten - jeden, den ich nicht gänzlich vertreiben konnte ... Unwillkürlich musste sie an Wills Lügen denken, seine nächtlichen Ausflüge, sein unfreundliches Benehmen gegenüber Charlotte und Henry, seine grausamen Bemerkungen und Kommentare, die immer irgendwie erzwungen wirkten ... Tessa erinnerte sich sogar an die Geschichte mit Tatiana, die zwar nur wie ein kleines Mädchen für Will geschwärmt hatte, aber deren Zuneigung er dennoch brutal zerstört hatte. Und schließlich war da noch ... »Jem«, wisperte sie.
Will warf ihr einen unglücklichen Blick zu. »Bei Jem sieht die Sache anders aus«, flüsterte er.
»Ja, denn er hat nicht mehr lange zu leben. Hast du Jem an dich herangelassen, weil er ohnehin dem Tode nahe ist? Weil du gedacht hast, der Fluch könnte ihn nicht treffen?«
»Mit jedem Jahr, das verstrich und in dem Jem weiterhin am Leben blieb, schien diese Annahme wahrscheinlicher. Ich habe gedacht, ich könnte lernen, auf diese Weise zu leben. Ich dachte, wenn Jem einmal nicht mehr ist und ich volljährig bin, könnte ich hier ausziehen und fortan allein leben, damit mein Fluch niemand anderen mehr treffen kann. Aber dann hat sich plötzlich alles verändert. Deinetwegen.«
»Meinetwegen?«, fragte Tessa mit leiser, verwunderter Stimme.
Der Hauch eines Lächelns umspielte Wills Mundwinkel. »Als ich dich das erste Mal gesehen habe, dachte ich sofort, dass du anders bist als jeder andere Mensch, dem ich jemals begegnet war. Du hast mich zum Lachen gebracht. Und das war niemandem außer Jem gelungen - jedenfalls nicht in den vergangenen ... gütiger Gott, lass mich nachdenken, nicht in fünf Jahren. Aber du hast es geschafft ... als wäre es das Normalste auf der Welt.«
»Damals hast du mich doch noch nicht einmal richtig gekannt, Will ...«
»Frag Magnus. Er wird es dir bestätigen. Denn nach jenem Abend auf dem Dach bin ich zu ihm gegangen. Ich hatte dich von mir gestoßen, weil ich dachte, dir wäre allmählich bewusst geworden, was ich für dich empfinde. Als ich dich an jenem Tag im Sanktuarium fand und dich im ersten Moment für tot hielt ... kurz darauf ist mir klar geworden, dass du meine Gefühle für dich auf meinem Gesicht gelesen haben musstest. Daraufhin überfiel mich eine furchtbare Angst. Ich musste dafür sorgen, dass du mich hasst, Tessa. Also habe ich es versucht. Und danach wäre ich am liebsten gestorben. Ich hatte gedacht, ich könnte den Gedanken ertragen, dass du mich hasst, aber das war ein Irrtum. Mir wurde bewusst, dass du im Institut wohnen bleiben würdest und dass ich mich bei deinem Anblick jedes Mal wieder auf das Dach zurückversetzt fühlen würde, als ich dich dazu bringen musste, mich zu verabscheuen, und gleichzeitig das Gefühl hatte, ich würde reinstes Gift schlucken.
Also habe ich mich an Magnus gewandt und von ihm verlangt, mir bei der Suche nach dem Dämon zu helfen, der mich verflucht hatte ... damit dieser den Fluch aufheben könnte. Denn dann, so dachte ich, könnte ich vielleicht noch einmal von vorne anfangen. Möglicherweise würde es lange dauern und schmerzhafter und schwieriger werden als erwartet, wenn nicht gar unmöglich, aber ich habe gedacht, ich könnte dich dazu bewegen, erneut etwas für mich zu empfinden - wenn es mir nur gelang, dir die Wahrheit zu sagen. Ich dachte, ich könnte dein Vertrauen zurückgewinnen ... langsam eine Beziehung mit dir aufbauen.«
»Willst du ... damit sagen, dass der Fluch aufgehoben ist? Dass er nicht länger auf dir lastet?«
»Auf mir hat nie ein Fluch gelastet, Tessa. Der Dämon hat mich hereingelegt. Es hat nie einen Fluch gegeben. All die Jahre bin ich ein Narr gewesen. Aber kein so großer Narr, dass ich nicht genau wusste, was ich zu tun hatte, nachdem ich die Wahrheit erfahren hatte: Ich musste dir sofort mitteilen, was ich wirklich für dich empfinde.« Vorsichtig trat er einen Schritt näher und Tessa wich nicht zurück.
Sie schaute Will an - die blasse, fast transparente Haut unter seinen
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