Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
einfach zu extreme und zu menschliche Gefühlsregungen waren. Doch nun erkannte Will, dass er sich geirrt hatte, denn Jem war schlichtweg noch nie so glücklich gewesen wie in diesem Moment. Jedenfalls nicht seit dem Tod seiner Eltern. Aber Will hatte nie darüber nachgedacht - er hatte sich immer nur damit befasst, ob Jem in Gefahr schwebte und ob er überleben würde, aber nie, ob er glücklich war.
Jem ist mein schweres Vergehen.
Tessa hatte recht gehabt, dachte Will. Er hatte sich gewünscht, sie würde ihre Verbindung mit Jem lösen, koste es, was es wolle. Aber nun erkannte er, dass er selbst auch nicht dazu in der Lage war, es einfach nicht konnte. Vielleicht könntest du dann ja wenigstens glauben, dass ich weiß, was Ehre bedeutet - Ehre und Schuld, hatte er zu Jem gesagt und es auch so gemeint. Er verdankte Jem sein Leben. Und er konnte ihm nicht das Einzige nehmen, was dieser sich mehr als alles andere wünschte. Selbst wenn das bedeutete, dass Will dafür sein eigenes Glück opfern musste. Denn Jem war nicht nur jemand, in dessen Schuld er stand - eine Schuld, die er niemals würde begleichen können -, er liebte ihn auch wie sein eigen Herz, so wie es im Bund vereinbart war. Und Jem wirkte nicht nur glücklicher, sondern sah auch kräftiger aus, erkannte Will: Seine Wangen besaßen eine gesunde Farbe und er hielt sich aufrecht.
»Ich muss mich bei dir entschuldigen«, sagte Jem. »Ich war zu harsch, was die Schattendrogenhöhle betrifft. Denn ich weiß doch, dass du nur Trost gesucht hast.«
»Nein, du hattest jedes Recht, mich ...«
»Das hatte ich nicht«, unterbrach Jem ihn und stand auf. »Wenn ich mich im Ton vergriffen habe, dann nur, weil ich nicht mit ansehen kann, dass du dich selbst behandelst, als wärst du nichts wert. Welchen Anschein du nach außen hin auch immer erwecken willst - ich sehe dich so, wie du wirklich bist, mein Blutsbruder: Nicht nur besser, als du vorgibst, sondern auch besser, als die meisten Menschen von sich selbst erhoffen dürfen.« Sanft legte er Will eine Hand auf die Schulter. »Du bist alles wert, was man sich nur wünschen kann, Will.«
Einen Moment lang schloss Will die Augen und sah den Sitzungssaal vor sich: zwei brennende Kreise auf dem schwarzen Basaltboden, Jem, der von seinem Kreis in Wills Kreis trat, sodass sie beide denselben Raum einnahmen, umgeben von einem Feuerkranz. Damals waren Jems Augen noch schwarz gewesen und riesengroß in dem blassen Gesicht. Will erinnerte sich wieder an den Wortlaut des Parabatai- Eids: Denn wo du hingehst, da gehe ich hin. Wo du stirbst, sterbe ich und da will ich begraben sein: Der Erzengel tue mir an, was er will - nur der Tod soll mich und dich scheiden! [30]
Dieselbe Stimme wandte sich auch nun wieder an ihn. »Danke für das, was du für Tessa getan hast«, sagte Jem.
Will schaffte es nicht, Jem anzusehen; stattdessen schaute er zur Wand, wo ihre Schatten miteinander verschmolzen, sodass sich nicht mehr sagen ließ, wo der eine endete und der andere begann. »Danke, dass du zugesehen hast, wie Bruder Enoch mir die Metallsplitter aus dem Rücken entfernt hat«, erwiderte er.
Jem lachte. »Wofür sonst sind Parabatai da?«
Der Sitzungssaal war mit roten Stoffbahnen dekoriert, die schwarze Runen trugen; Jem flüsterte Tessa leise zu, dass es sich dabei um Runen für Entschlusskraft und Urteilsvermögen handelte. Dann nahmen er und Tessa ihre Plätze ein, in einer der vorderen Reihen, wo bereits Henry, Gideon, Charlotte und Will saßen.
Tessa hatte seit dem gestrigen Tag nicht mit Will gesprochen: Er war nicht zum Frühstück erschienen und hatte sich ihnen erst spät im Innenhof des Instituts angeschlossen. Während er hinter ihnen die Stufen hinablief, knöpfte er sich noch hastig den Mantel zu; seine dunklen Haare waren zerzaust und er sah aus, als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen. Er schien jeden Blickkontakt mit Tessa vermeiden zu wollen und sie bemühte sich ihrerseits, nicht zurückzuschauen, obwohl sie seine Augen hin und wieder kurz auf sich ruhen spürte wie heiße Ascheflocken auf ihrer Haut.
Jem zeigte sich als perfekter Gentleman: Ihre Verlobung war noch immer ein Geheimnis und bis auf ein Lächeln, das er ihr jedes Mal schenkte, wenn sie ihn anschaute, verhielt er sich in keinster Weise anders als sonst. Als sie sich auf den Sitzplätzen im Ratssaal niederließen, spürte Tessa, wie er ihren Arm sanft mit den Fingerknöcheln seiner rechten Hand streifte, ehe er sie wieder wegnahm.
Tessa
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