Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
Selbstgefälligkeit, wie Tessa bei näherem Hinsehen einräumen musste. Ihr Bruder erinnerte sie an Church ... nachdem dieser eine Maus getötet hatte.
Nate lachte leise. »Was hast du, Jess? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«
Das habe ich auch, das Gespenst des Bruders, den ich einst geliebt habe. Tessa suchte nach Jessamine, nach Jessamines Spuren in ihrem Verstand. Doch auch dieses Mal fühlte es sich wieder so an, als griffen ihre Hände in vergiftetes Wasser. Erneut bekam sie keinen von Jessamines Gedanken zu fassen. »Ich ... hatte plötzlich Angst, mein Verehrer würde vielleicht nicht erscheinen«, log sie hastig.
Bei diesen Worten lachte Nate zärtlich. »Du glaubst doch nicht, dass ich mir eine Gelegenheit entgehen lasse, dich zu sehen, oder? Ach, mein törichtes kleines Mädchen.« Lächelnd schaute er in die Runde. »Lightwood sollte sich öfter bemühen, den Magister zu beeindrucken.« Damit streckte er ihr eine Hand entgegen. »Würdest du mir die Ehre erweisen, mit mir zu tanzen, Jessie?«
Jessie. Nicht »Miss Lovelace«. Tessa fiel erst jetzt auf, dass er sie schon die ganze Zeit beim Vornamen genannt und geduzt hatte. Falls sie noch irgendwelche Zweifel bezüglich der Ernsthaftigkeit der Verbindung zwischen Jessamine und Nate gehabt hatte, waren diese nun restlos ausgeräumt. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Aber gern.«
Das Orchester - eine Ansammlung kleiner purpurroter Männer in silberglänzendem Tüll - spielte gerade einen Walzer. Nate nahm Tessas Hand und zog sie auf die Tanzfläche.
Gott sei Dank, dachte Tessa. Gott sei Dank hatte ihr Bruder sie jahrelang in ihrem Wohnzimmer in Tante Harriets winziger Wohnung herumgewirbelt. Sie wusste genau, wie er tanzte, wusste, wie sie ihre Bewegungen den seinen anpassen musste, trotz ihres zierlichen, ungewohnten Körpers. Allerdings hatte er sie damals nicht auf diese Weise angesehen - zärtlich, mit leicht geöffneten Lippen. Gütiger Gott, was wäre, wenn er versuchte, sie zu küssen? An diese Möglichkeit hatte sie gar nicht gedacht. Sie würde sich auf der Stelle übergeben müssen. Oh Gott, bitte, bitte mach, dass er es erst gar nicht probiert, betete sie inständig.
Hastig holte sie Luft und sprudelte los: »Ich hatte heute furchtbare Mühe, mich ungesehen aus dem Institut zu schleichen. Sophie, dieses kleine neugierige Ding, hätte doch beinahe die Einladung entdeckt.«
Nates Hände verspannten sich und packten sie fester. »Aber das hat sie nicht, oder?« In seiner Stimme schwang eine unterschwellige Warnung mit.
Tessa spürte, dass sie kurz davor stand, einen fatalen Fehler zu begehen, und schaute sich rasch im Saal um. Wo steckte Will? Was hatte er noch gesagt? Selbst wenn du mich nicht sehen solltest, werde ich immer in deiner Nähe sein? Aber noch nie zuvor hatte sie sich derartig allein und auf sich selbst gestellt gefühlt. Sie atmete tief ein und warf den Kopf in den Nacken - die beste Imitation Jessamines, zu der sie fähig war. »Hältst du mich für eine Närrin? Natürlich nicht. Ich habe ihr mit dem Spiegel auf das dürre Handgelenk geschlagen, woraufhin sie den Umschlag sofort fallen ließ. Davon abgesehen kann sie vermutlich ohnehin nicht lesen.«
»Richtig«, pflichtete Nate ihr bei und entspannte sich sichtlich. »Man hätte dir wahrlich eine Kammerzofe besorgen können, die einer Lady würdig ist - eine, die Französisch spricht, nähen kann und ...«
»Sophie kann nähen«, warf Tessa automatisch ein und hätte sich dafür am liebsten geohrfeigt. »Zumindest einigermaßen«, berichtigte sie sich und sah wimpernklimpernd zu Nate auf. »Und wie ist es dir seit unserer letzten Begegnung ergangen?« Auch wenn ich nicht die leiseste Ahnung habe, wann das gewesen sein könnte.
»Sehr gut. Offenbar stehe ich weiterhin in der Gunst des Magisters.«
»Ein kluger Mann«, hauchte Tessa. »Er erkennt einen wertvollen Schatz, wenn der ihm über den Weg läuft.«
Mit einem behandschuhten Finger berührte Nate ihr Gesicht und Tessa musste sich zwingen, nicht zu erstarren. »Das verdanken wir alles dir, mein Liebling. Meine kleine, nie versiegende Quelle der Information.« Er rückte näher an sie heran. »Wie ich sehe, trägst du das Kleid, um das ich gebeten hatte«, flüsterte er. »Seit du das erste Mal davon sprachst, wie du es zu eurer letzten Weihnachtsfeier getragen hast, habe ich mich danach verzehrt, dich in diesem Kleid zu sehen. Und darf ich mir die Bemerkung erlauben, dass du eine blendende
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