Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
trugen. Drei Seiten des Saals schimmerten in einem sehr dunklen Blau, während die vierte Wand von Terrassentüren durchbrochen war, durch die eine frische Brise vom Fluss heraufwehte und für etwas Kühlung sorgte. Denn trotz des kalten Wetters war es im Saal heiß und stickig. Die deckenhohen Türen führten auf kleine, geschwungene Steinbalkone hinaus, von denen aus sich ein hervorragender Blick auf die Themse und die Lichter der Stadt bot. Breite Stoffbahnen verdeckten die Mauern und über den Fenstern hingen üppige Draperien, die sich im Windzug leicht bauschten und deren Gewebe mit goldgewirkten Mustern versehen war: das gleiche changierende, schillernde Muster, das Tessa bereits auf dem Emblem am Fuß der Treppe hatte blinzeln lassen.
Eine gewaltige Menschenmenge drängte sich im Saal - nun ja, nicht direkt Menschen, überlegte Tessa, auch wenn viele auf den ersten Blick so aussahen. Denn sie entdeckte unter den Gästen auch die totenbleichen Gesichter von Vampiren und ein paar violett- und rothäutige Ifrit, allesamt nach der neuesten Mode gekleidet. Die meisten Besucher trugen Masken - kunstvolle goldene und schwarze Halblarven, Pestarzt-Schnabelmasken mit winzigen Brillengläsern oder rote Teufelsfratzen mitsamt Hörnern. Einige der Geladenen waren jedoch unmaskiert erschienen, darunter eine Gruppe von Frauen, deren Haare in Lavendelblau, Grün und Violett schimmerten. Allerdings erweckte es nicht den Eindruck, als ob sie gefärbt wären. Sie trugen die Haare außerdem nicht hochgesteckt, sondern offen, wie Nymphen in Gemälden. Auch ihre Kleidung war skandalträchtig: Die Damen hatten eindeutig kein Korsett angelegt und sich in weite Gewänder aus locker fallenden Stoffen wie Samt, Tüll und Satin gehüllt. Zwischen diesen Ballbesuchern bewegten sich weitere Gäste in allen möglichen Gestalten und Größen. Tessas Blick fiel auf einen Mann, der viel zu hochgeschossen und dünn war, um tatsächlich ein Mann sein zu können; er trug Zylinder und Frack und ragte über einer jungen Frau in einem grünen Umhang auf, deren rote Haare wie Kupfer glänzten. Mehrere hundeartige Wesen mit gelblichen, wachsamen Augen und Stacheln auf dem Rücken, die Tessa an Buchillustrationen exotischer Tiere erinnerten, stolzierten an ihr vorbei und ein gutes Dutzend kleiner Kobolde quiekte und schnatterte miteinander in einer ihr vollkommen unverständlichen Sprache. Sie schienen sich über eines der dargebotenen Häppchen zu streiten - allem Anschein nach einen zerstückelten Frosch. Tessa musste schlucken, drehte sich um - und dann sah sie sie plötzlich.
Gestalten, die sie vorher nicht bemerkt hatte. Möglicherweise hatte ihr Verstand sie nur als Dekoration wahrgenommen, als Ritterrüstungen oder dergleichen, doch darum handelte es sich ganz eindeutig nicht. Klockwerk-Automaten säumten die Wände, reglos und stumm, in Menschengestalt, so wie der Kutscher, der zu den Dunklen Schwestern gehört hatte. Die Metallkreaturen trugen die Livree der Lightwoods, jeweils mit einem gestickten Ouroboros auf der linken Brust. Die leeren, ausdruckslosen Gesichtsflächen erinnerten an Kinderzeichnungen, die noch nicht mit Gesichtszügen versehen waren.
Plötzlich berührte sie jemand an der Schulter. Tessas Herz machte vor Angst einen Satz: Man hatte sie entdeckt, ihre Verkleidung enttarnt! Jeder Muskel in ihrem Körper verspannte sich.
Doch dann sagte eine helle, vertraute Stimme: »Ich dachte schon, du würdest nie mehr herfinden, Jessie, meine Liebe.«
Tessa drehte sich um und schaute ihrem Bruder direkt ins Gesicht.
Bei ihrer letzten Begegnung im Flur des Instituts war Nathaniel verwundet und blutüberströmt gewesen und hatte sie mit einem Messer in der Hand bedroht und verhöhnt - eine beängstigende Jammergestalt, Furcht einflößend und erbärmlich zugleich. Doch dieser Nate hier wirkte vollkommen anders. Er schaute aus seinen leuchtend blauen Augen lächelnd zu ihr hinab - da Jessamine so viel kleiner war als Tessa, ging sie ihm nur bis zur Brust statt wie sonst bis zum Kinn. Sein blondes Haar war gekämmt und gepflegt, seine Haut ohne Kratzer oder Narben. Er trug einen eleganten Abendanzug mit einem schwarzen Hemd, der seine attraktiven Züge besonders gut zur Geltung brachte, und dazu makellos weiße Handschuhe.
Dies war der Nate seiner eigenen Wunschvorstellung, so wie er sich in seinen Träumen schon immer gesehen hatte: wohlhabend, elegant und kultiviert. Er strahlte eine gewisse Zufriedenheit aus -oder besser gesagt
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