Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
gesenkter Stimme an, »ist alles in Ordnung? Du siehst aus, als wärst du mit deinen Gedanken meilenweit entfernt.«
Beruhigend lächelte Tessa ihn an. »Ich bin nur ein wenig müde. Das Training ... daran bin ich überhaupt nicht gewöhnt.« Und das entsprach durchaus der Wahrheit: Ihre Arme schmerzten vom stundenlangen Halten und Heben des schweren Trainingsschwerts, und obwohl Sophie und sie im Grunde nur Gleichgewichts- und Parierübungen durchgeführt hatten, machten auch ihre Beine ihr stark zu schaffen.
»Die Brüder der Stille haben eine Salbe gegen Muskelkater entwickelt. Klopf einfach kurz an meine Tür, bevor du zu Bett gehst; ich habe noch einen Tiegel in meinem Zimmer.«
Bei Jems Worten schoss Tessa das Blut in die Wangen, aber dann fragte sie sich, warum sie überhaupt errötete: Die Schattenjäger pflegten nun einmal einen ungezwungenen Umgang untereinander. Außerdem war sie schon einmal in Jems Schlafzimmer gewesen, sogar ganz allein mit ihm, noch dazu in ihrem Nachthemd, und niemand hatte daran Anstoß genommen. Auch jetzt bot er ihr nichts weiter als ein Arzneimittel an und doch konnte sie spüren, wie ihre Wangen geradezu glühten. Er schien es ebenfalls zu bemerken und errötete seinerseits: Die kräftige Tönung zeichnete sich deutlich von seiner blassen Haut ab. Hastig schaute Tessa weg und erblickte Will, der sie beide beobachtete; seine blauen Augen schauten ruhig und unergründlich. Nur Henry, der mit seiner Gabel ein paar Erbsen auf seinem Teller jagte, schien von alldem überhaupt nichts mitzubekommen.
»Vielen Dank«, murmelte Tessa. »Darauf werde ich gern ...«
Im selben Moment platzte Charlotte ins Speisezimmer. Ihre langen dunklen Locken hatten sich aus der Hochsteckfrisur gelöst und sie hielt triumphierend eine Schriftrolle in der Hand. »Ich hab’s gefunden!«, rief sie. Dann warf sie sich atemlos auf den Stuhl neben Henry, wobei ihr sonst so blasses Gesicht vor Anstrengung und Aufregung rosig glühte. Lächelnd wandte sie sich an Jem: »Du hattest recht ... die Wiedergutmachungsabteilung des Archivs ... nach nur wenigen Stunden Recherche hab ich es gefunden.«
»Lass mich mal sehen«, forderte Will und legte die Gabel beiseite. Er hatte sein Essen kaum angerührt, wie Tessa mit einem Blick auf seinen Teller bemerkte. Der Silberring mit der Vogel-Gravur blitzte an seinem Finger auf, als er nach der Schriftrolle in Charlottes Hand griff.
Doch Charlotte verpasste ihm gutmütig einen Klaps auf die Finger. »Nein. Wir werden uns das Dokument alle gemeinsam ansehen. Schließlich war es Jems Idee, oder etwa nicht?«
Will runzelte die Stirn, schwieg aber. Rasch breitete Charlotte die Schriftrolle auf dem Tisch aus und schob dabei Teetassen und leere Teller zur Seite, um Platz zu schaffen. Die anderen standen auf, versammelten sich um sie und betrachteten neugierig das Dokument. Die dunkelrote Tusche auf dem dicken, fast pergamentartigen Papier erinnerte an die Farbe der Runen auf den Roben der Stillen Brüder. Obwohl das Dokument in englischer Sprache verfasst war, wurde Tessa einfach nicht schlau daraus, weil der Schreiber es mit einer sehr engen Handschrift aufgesetzt und mit zahlreichen Abkürzungen versehen hatte.
Jem beugte sich vor; sein Arm streifte Tessas, als er über ihre Schulter hinweg las. Mit nachdenklicher Miene studierte er das Geschriebene.
Langsam wandte Tessa ihm ihr Gesicht zu; dabei kitzelte eine seiner hellen Locken ihre Wange. »Was steht in dem Dokument?«, wisperte sie.
»Es handelt sich um einen Antrag auf Entschädigung«, erklärte Will, wobei er die Tatsache, dass sie ihre Frage an Jem gerichtet hatte, absichtlich ignorierte. »Im Jahr 1825 an das Institut in York geschickt, im Namen von Axel Hollingworth Mortmain, der Wiedergutmachung verlangt für den ungerechtfertigten Tod seiner Eltern, John Thaddeus und Anne Evelyn Shade, etwa ein Jahrzehnt zuvor.«
»John Thaddeus Shade«, sagte Tessa. » J.T.S., die Initialen auf Mortmains Taschenuhr. Aber wenn er ihr Sohn ist, warum trägt er dann nicht denselben Nachnamen?«
»Die Shades waren Hexenwesen«, erläuterte Jem, der bereits weitergelesen hatte. »Und zwar alle beide. Mortmain kann also nicht ihr leiblicher Sohn gewesen sein; sie müssen ihn adoptiert haben, allerdings ohne seinen irdischen Namen zu ändern. So etwas kommt von Zeit zu Zeit durchaus vor.« Er warf ihr einen raschen Blick zu und schaute dann schnell wieder auf das Dokument.
Tessa fragte sich, ob er sich wohl ebenfalls an ihr
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