Chroniken der Schattenkrieger (German Edition)
können, dass die Sitzposition in der ersten Reihe, direkt am Pult des Lehrers, bei den Schülern verhasst wäre, doch manche von ihnen hatten in ihrer schulischen Karriere längst verstanden, dass es sich um einen Irrtum handelte.
Diesen Irrtum hatte Marion Smith vor circa zwei Jahren aufgedeckt, ein kluger Kopf der Schule, der aber bei den meisten eher auf Missgunst und Verachtung stieß. Da er auch zum Leiter der Schülerzeitung, „The Jonathan Times“ gewählt worden war, war es für ihn ein Leichtes, seine neu gewonnene Erkenntnis allen kundzutun.
Seiner Theorie nach war es eben nicht die erste Reihe, sondern die zweite, die bei den Lehrern besonders beliebt war, wenn es darum ging, einen Schüler auszuwählen, der die Hausaufgaben vortragen musste oder zur Tafel abkommandiert werden sollte. Dies begründete er mit dem von ihm persönlich ins Leben gerufenen „Syndrom der zweiten Reihe“, das er gerne mit der Buchstabenfolge „SDZR“ abkürzte, um die wissenschaftliche Seite dabei noch stärker zu betonen. Angeblich basierten seine Ergebnisse auf jahrelanger Beobachtung und haargenauer Protokollierung aller Sitzreihen, die aber niemand nachprüfen konnte, geschweige denn wollte.
Demnach wurden die Schüler in der zweiten Reihe öfters drangenommen, da die Lehrer die Schüler der ersten automatisch als vorbereiteter empfanden. Schließlich würde sich auch niemand freiwillig in die erste trauen, der damit rechnen musste, ausgewählt zu werden, besonders nicht, wenn er unvorbereitet zum Unterricht erschiene.
Diese Theorie verbreitete sich nach ihrer Veröffentlichung in der Schülerzeitung wie ein Lauffeuer und wurde von den meisten, die sie gelesen hatten, in der Praxis angewandt.
So mussten sich die Zu-spät-Kommer mit den unbeliebtesten Plätzen zufrieden geben.
„Am besten setzt du dich, Aragon, zusammen mit Marri ans Fenster, und du, Elias, platzierst dich zusammen mit Sydney nahe der Tür“, sagte Mrs. Tomson so, als ob sie Sydneys geheimen Wünsche gekannt hätte.
In solchen Situationen konnte man normalerweise mit einer sehr belustigten Reaktion der anderen Klassenmitglieder rechnen, doch dies blieb den beiden Mädchen erspart. Daraus konnte man durchaus schließen, dass sowohl Elias als auch Aragon einen gewissen Grad an Respekt bei ihren Mitschülern genossen.
Erleichtert über die überstandene erste Hürde, begaben sich die Mädchen auf die ihnen zugeteilten Plätze.
„Ich hoffe, du kannst Mathe und lässt mich ab und zu bei dir abschreiben“, flüsterte Sydney Elias zu, als sie sich setzten. Um diesen ersten Satz auszusprechen, musste sie ihren ganzen Mut zusammenfassen – ein unvergleichlicher Akt der Überwindung. Ihr Herzschlag erhöhte sich noch mehr, sodass sie langsam das Gefühl hatte, die ganze Klasse würde das Pochen in ihrer Brust mithören.
Elias belohnte ihren Mut mit einem Lächeln. „Das werde ich“, antwortete er knapp und legte seine Tasche auf den Tisch.
„Zu spät kommen und dabei noch den Unterricht stören! Das mag ich überhaupt nicht.“ Mrs. Tomson hatte den Dialog bemerkt und versuchte direkt zu Beginn des neuen Schuljahres, die Schüler in ihre Schranken zu weisen, damit sowohl das Machtverhältnis als auch die Autoritätsfrage von vornherein geklärt waren.
Ihre Brille hing jetzt an ihrer Nasenspitze, sodass man glauben konnte, sie würde bei der nächsten Bewegung abrutschen und zu Boden fallen. Mit weit aufgerissenen Augen, die ihren animalischen Gesichtsausdruck betonten, starrte sie Sydney an.
„Es tut mir leid, Mrs. Tomson“, sagte diese und schaute zur Tafel. Das kann ja noch heiter werde , dachte sie bei sich und atmete tief durch.
Die erste Stunde verlief wie üblich ereignislos. Es wurden allgemeine Informationen zum neuen Lerninhalt gegeben und die Schüler über die Möglichkeiten zusätzlicher Kursangebote unterrichtet.
Sport war nicht unbedingt ein Thema, das Sydney interessierte. Wie sie jedoch an Elias’ Körperhaltung erkennen konnte, war er wohl ein großer Liebhaber körperlicher Ertüchtigung.
Besonders, als es um die Belange der schulischen Rugby-Mannschaft ging, beugte er sich mit dem Oberkörper regelrecht über den Tisch und saugte gierig jedes Wort ein, das aus Mrs. Tomsons Mund kam.
Sydney ihrerseits war sehr überrascht, als verkündet wurde, dass in diesem Jahr zum ersten Mal ein Dichter- und Schriftstellerkursus angeboten wurde.
In ihrer alten Schule in Brunswick hatte sich immer gewünscht, an solch einem Kurs
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