Chroniken der Unterwelt Bd. 1 City of Bones
dir helfen.«
Die Trauer in seiner Stimme hinderte sie daran, ihn weiter zu drängen. »Sie können mir helfen … Ich kann nämlich nicht schlafen«, sagte sie. »Ich grüble zu viel. Könnten Sie …«
»Ah, ein unruhiger Geist.« Seine Stimme war voller Mitgefühl. »Dagegen kann ich dir etwas geben. Warte hier.«
Der Trank, den Hodge ihr gab, roch angenehm nach Wacholder und Laub. Clary öffnete die Phiole auf dem Weg in ihr Zimmer und schnupperte daran. Unglücklicherweise war das Fläschchen noch offen, als Clary ihr Zimmer betrat, wo Jace ausgestreckt auf ihrem Bett lag und seelenruhig in ihrem Skizzenblock blätterte. Erschrocken schrie Clary auf und ließ die Phiole fallen; sie rollte über den Boden und die blassgrüne Flüssigkeit ergoss sich auf die Holzdielen.
»Oje«, sagte Jace, setzte sich auf und legte den Skizzenblock beiseite. »Ich hoffe, das war nichts Wichtiges.«
»Es war ein Schlaftrunk«, sagte sie wütend und berührte die Phiole mit der Spitze ihres Turnschuhs. »Und jetzt ist er hinüber.«
»Wenn bloß Simon hier wäre. Er könnte dich vermutlich in den Schlaf langweilen.«
Clary war nicht in der Stimmung, Simon zu verteidigen. Stattdessen setzte sie sich neben Jace aufs Bett und nahm ihm den Skizzenblock ab. »Normalerweise erlaube ich keinem, einen Blick darauf zu werfen.«
»Warum nicht?« Jace sah zerzaust aus, als hätte er eben noch geschlafen. »Du bist eine ziemlich gute Malerin. Stellenweise sogar hervorragend.«
»Meine Skizzen sind … wie ein Tagebuch. Nur dass ich nicht in Worten denke. Ich denke in Bildern, also male ich. Aber trotzdem ist es sehr privat.« Sie fragte sich, ob sie so verrückt klang, wie sie befürchtete.
Jace sah gekränkt aus. »Ein Tagebuch ohne Bilder von mir? Wo sind die heißen Fantasien? Die Titelbilder von Liebesromanen? Die …«
»Verlieben sich eigentlich alle Mädchen, denen du begegnest, in dich?«, fragte Clary leise.
Die Frage ließ seine Selbstsicherheit verpuffen, als hätte man mit einer Nadel in einen Luftballon gestochen. »Ich würde es nicht als Liebe bezeichnen«, sagte er nach einer Weile. »Zumindest …«
»Du könntest versuchen, nicht die ganze Zeit den Charmeur zu spielen«, sagte Clary. »Vielleicht wäre das für alle eine Erleichterung.«
Er schaute auf seine Hände. Sie sahen bereits aus wie die Hände von Hodge, übersät mit winzigen weißen Narben, auch wenn die Haut jung und faltenlos war. »Wenn du wirklich müde bist, könnte ich dafür sorgen, dass du einschläfst. Ich könnte dir eine Gutenachtgeschichte erzählen«, sagte er.
Sie sah ihn an. »Meinst du das ernst?«
»Ich meine alles ernst.«
Sie fragte sich, ob die Müdigkeit sie beide ein bisschen verrückt gemacht hatte. Aber Jace sah nicht müde aus, eher traurig. Sie schob den Skizzenblock auf den Nachttisch, streckte sich aus und rollte sich auf die Seite. »Okay.«
»Mach die Augen zu.«
Als sie die Augen schloss, sah sie immer noch kleine Lichtpunkte an den Innenseiten ihrer Lider, die an winzige Sternenexplosionen erinnerten.
»Es war einmal ein Junge«, begann Jace.
»Ein Schattenjäger-Junge?«, unterbrach Clary ihn sofort.
»Natürlich.« Einen Moment klang seine Stimme leicht amüsiert, doch als er weitersprach, war der Unterton verschwunden. »Als der Junge sechs Jahre alt war, schenkte sein Vater ihm einen Falken, den er abrichten sollte. ›Falken sind Raubvogels sagte der Vater, ›die Schattenjäger der Lüfte.‹
Der Falke mochte den Jungen nicht und der Junge mochte den Falken nicht. Sein spitzer Schnabel machte ihn nervös und die scharfen Augen schienen ihn ständig zu beobachten. Wenn er in seine Nähe kam, hackte der Falke mit dem Schnabel nach ihm und kratzte ihn mit den Krallen. Wochenlang bluteten die Handgelenke und Hände des Jungen. Er wusste nicht, dass der Vater einen Falken ausgesucht hatte, der über ein Jahr in freier Wildbahn gelebt hatte und daher fast unmöglich zu zähmen war. Aber der Junge versuchte es, weil der Vater ihm gesagt hatte, er solle den Falken abrichten, und er wollte seinen Vater nicht enttäuschen.
Der Junge blieb die ganze Zeit bei dem Falken, hielt ihn wach, indem er mit ihm sprach, und spielte ihm sogar Musik vor, denn es hieß, ein müder Vogel ließe sich leichter zähmen. Er lernte, mit der Ausrüstung umzugehen, mit der Haube, dem Brehlriemen und der Langfessel, mit der er den Vogel an seinem Handgelenk festband. Sein Vater hatte ihm aufgetragen, darauf zu achten, dass der Falke
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