Chroniken der Unterwelt Bd. 1 City of Bones
nichts sehen konnte, aber das brachte er nicht fertig. Stattdessen versuchte der Junge, sich dort hinzusetzen, wo der Vogel ihn sehen konnte, wenn er seine Flügel streichelte, denn er wollte, dass er ihm vertraute. Und er fütterte ihn aus der Hand. Zuerst wollte der Vogel nichts fressen; später fraß er jedoch so gierig, dass sein Schnabel die Haut der Handflächen aufschlitzte. Aber der Junge freute sich darüber, denn es war ein Fortschritt und er wollte, dass der Vogel ihn kennenlernte, selbst wenn dieser dazu sein Blut trinken musste.
Allmählich erkannte der Junge, dass der Falke schön war, dass seine schlanken Flügel für den schnellen Flug gemacht waren, dass er stark und geschickt, wild und geschmeidig war. Wenn er im Sturzflug auf den Boden zuschoss, bewegte er sich schnell wie ein Blitz. Als er lernte, zu kreisen und auf seinem Handgelenk zu landen, schrie der Junge fast vor Freude. Manchmal hüpfte der Vogel auf seine Schulter und legte ihm den Schnabel ins Haar. Er wusste, dass sein Falke ihn liebte, und als er sicher war, dass der Vogel nicht nur gezähmt, sondern perfekt abgerichtet war, ging er zu seinem Vater und zeigte ihm, was er geschafft hatte, in der Hoffnung, sein Vater würde stolz auf ihn sein.
Stattdessen nahm der Vater den Vogel, der nun zahm und zutraulich war, in die Hände und brach ihm das Genick. ›Ich habe dir gesagt, du sollst ihn abrichten‹, sagte der Vater und ließ den leblosen Körper des Falken zu Boden fallen. ›Stattdessen hast du ihm beigebracht, dich zu lieben. Falken sind aber keine liebevollen Haustiere: Ihre Natur ist kämpferisch, wild und grausam. Dieser Vogel war nicht gezähmt, er war gebrochen.›
Als sein Vater gegangen war, weinte der Junge um seinen Vogel, bis der Vater schließlich einen Bediensteten schickte, das tote Tier zu holen und zu begraben. Der Junge weinte nie wieder und er vergaß nie, was er gelernt hatte: dass lieben zerstören heißt und dass geliebt zu werden bedeutet, derjenige zu sein, der zerstört wird.«
Clary, die die ganze Zeit still dagelegen und kaum geatmet hatte, rollte auf den Rücken und öffnete die Augen. »Das ist eine schreckliche Geschichte«, sagte sie entrüstet.
Jace hatte die Beine angezogen und das Kinn auf die Knie gestützt. »Ja, wirklich?«, fragte er nachdenklich.
»Der Vater des Jungen ist furchtbar. Es ist eine Geschichte über Kindesmisshandlung. Ich hätte wissen sollen, was sich Schattenjäger unter einer Gutenachtgeschichte vorstellen – alles, wovon man entsetzliche Albträume bekommt …«
»Manchmal bekommt man von den Malen entsetzliche Albträume«, sagte Jace. »Wenn man noch zu jung dafür ist.« Er schaute sie nachdenklich an. Das Licht der Abenddämmerung drang durch die Vorhänge und machte aus seinem Gesicht eine Kontraststudie. Chiaroscuro, dachte sie, die Kunst von Licht und Schatten. »Wenn man es recht bedenkt, ist es eine gute Geschichte. Der Vater des Jungen hat nur versucht, ihn stärker zu machen. Unbeugsam.«
»Aber man muss lernen, ein wenig nachzugeben«, sagte Clary und gähnte. Trotz der schrecklichen Geschichte hatte der Rhythmus von Jace’ Stimme sie schläfrig gemacht. »Oder man zerbricht.«
»Nicht wenn man stark genug ist«, erwiderte Jace bestimmt. Er streckte die Hand aus und sie spürte, wie er mit dem Handrücken über ihre Wange streichelte. Sie merkte, dass ihr die Augen zufielen. Die Erschöpfung machte ihre Knochen weich und sie fühlte sich, als würde sie davongespült. Als sie einschlief, hörte sie seine Worte in ihrem Kopf nachhallen. Er hat mir alles gegeben, was ich wollte. Pferde, Waffen, Bücher, sogar einen Jagdfalken.
»Jace«, versuchte sie zu sagen. Aber der Schlaf hatte sie bereits übermannt. Er zog sie hinab und sie blieb stumm.
Eine drängende Stimme riss sie aus ihren Träumen. »Wach auf!« Langsam öffnete Clary die Augen. Sie fühlten sich schwer und verklebt an. Irgendetwas kitzelte in ihrem Gesicht. Haare!
Ruckartig setzte sie sich auf und krachte mit dem Kopf gegen etwas Hartes. »Au! Du hast mir gegen den Kopf geschlagen!«
Es war die Stimme eines Mädchens. Isabelle. Sie schaltete die Lampe neben dem Bett ein, schaute Clary vorwurfsvoll an und rieb sich den Schädel. Im Licht der Lampe schien sie förmlich zu schillern – sie trug einen langen silbernen Rock, ein paillettenbesetztes Top, ihre Nägel waren lackiert wie funkelnde Münzen und sie hatte ihr dunkles Haar mit silbernen Perlen durchflochten. Sie sah aus wie
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