Chroniken der Unterwelt Bd. 1 City of Bones
Geschichtsunterricht.«
»Ich schlafe nicht …«
»Oh doch, das tust du und sabberst dabei aufs Pult.«
»Schluss jetzt«, sagte Magnus, allerdings nicht unfreundlich. Er steckte einen Finger zwischen zwei Seiten des Buches, ging zu Clary und legte es behutsam in ihren Schoß. »Wenn ich das Buch jetzt aufschlage, möchte ich, dass du die Seite studierst. Sieh sie dir so lange an, bis du spürst, dass sich etwas in deinem Geist verändert.«
»Wird es wehtun?«, fragte Clary nervös.
»Jedes Wissen tut weh«, erwiderte er, richtete sich auf und öffnete das Buch in ihrem Schoß. Clary starrte auf die saubere weiße Seite mit der schwarzen Rune. Sie erinnerte sie an eine Spirale mit Flügeln. Erst als Clary den Kopf neigte, verwandelte die Rune sich in einen Stab, um den sich Blätter rankten. Die Ecken des Musters schienen ihre Gestalt zu verändern und kitzelten Clarys Geist wie Federn, die über empfindliche Haut streicheln. Sie fühlte, dass ihr Körper zaghaft zu reagieren begann, und hätte am liebsten den Kopf weggedreht. Stattdessen zwang sie sich hinzuschauen, bis ihre Augen brannten und alles verschwamm. Sie wollte gerade blinzeln, als sie es spürte: ein Klicken in ihrem Kopf, wie ein Schlüssel, der im Schloss gedreht wird.
Die Rune auf der Seite schien nun schärfer hervorzutreten und sie dachte unwillkürlich: Erinnerung . Wenn die Rune aus einem Wort bestanden hätte, dann wäre es dieses gewesen, aber sie bedeutete mehr – mehr als alle Worte, die Clary sich vorstellen konnte. Es war die erste Erinnerung eines Kindes an das Licht, das durch die Gitterstäbe seines Bettchens fällt, die Erinnerung an den Geruch des Regens auf den Straßen in der Stadt, an den Schmerz unvergessenen Verlusts, den Stachel der Demütigung und die grausame Vergesslichkeit des Alters, wenn die ältesten Erinnerungen quälend klar und deutlich hervortreten, aber die unmittelbarsten Ereignisse nicht mehr ins Gedächtnis gerufen werden können.
Mit einem leisen Seufzer blätterte sie weiter und weiter – überließ sich ganz den Bildern und Empfindungen. Kummer. Gedanken. Stärke. Schutz. Gnade … nur um überrascht und vorwurfsvoll aufzuschreien, als Magnus ihr das Buch vom Schoß riss.
»Das reicht«, sagte er und stellte das Buch wieder ins Regal zurück. Er wischte sich die Hände an seiner Hose ab, auf der graue, staubige Streifen zurückblieben. »Wenn du alle Runen auf einmal liest, bekommst du Kopfschmerzen.«
»Aber …«
»Die meisten Schattenjäger-Kinder lernen über Jahre immer nur eine einzige Rune«, erklärte Jace. »Das Graue Buch enthält Runen, die selbst ich nicht kenne.«
»Man stelle sich das mal vor«, meinte Magnus.
Jace ignorierte ihn. »Magnus hat dir die Rune für Verstehen und Erinnern gezeigt. Sie öffnet deinen Geist, damit du den Rest der Male lesen und erkennen kannst.«
»Die Rune kann auch ruhende Erinnerungen aktivieren«, sagte Magnus. »Auf diese Weise stellen sie sich vielleicht wieder ein. Mehr kann ich nicht für dich tun.«
Clary schaute auf ihren Schoß. »Ich kann mich noch immer an nichts erinnern, was mit dem Kelch der Engel zusammenhängt.«
»Ach, darum geht es also?« Magnus klang wirklich überrascht. »Ihr seid hinter dem Engelskelch her? Hör zu, ich habe deine Erinnerungen durchforstet. Aber darin war nichts, was mit den Insignien der Engel zusammenhängen würde.«
»Insignien der Engel?«, fragte Clary verblüfft. »Ich dachte …«
»Der Erzengel gab den ersten Schattenjägern drei Dinge: einen Kelch, ein Schwert und einen Spiegel. Die Stillen Brüder haben das Schwert und der Kelch und der Spiegel waren in Idris, zumindest bis Valentin auftauchte.«
»Niemand weiß, wo sich der Spiegel jetzt befindet«, sagte Alec. »Er ist seit einer Ewigkeit verschwunden.«
»Uns geht es um den Kelch«, bemerkte Jace. »Valentin sucht danach.«
»Und ihr wollt den Kelch finden, ehe er ihn in die Finger bekommt?«, fragte Magnus mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Hatten Sie nicht gesagt, Sie wüssten nicht, wer Valentin ist?«, hakte Clary nach.
»Ich habe gelogen«, gab Magnus offen zu. »Ich gehöre nicht zu den Feenwesen. Ich bin nicht verpflichtet, wahrhaftig zu sein. Und nur ein Narr würde sich zwischen Valentin und seine Rache stellen.«
»Du glaubst, dass es ihm darum geht? Um Rache?«, fragte Jace.
»Ich nehme es an. Er hat eine schwere Niederlage erlitten und er schien – scheint – nicht der Typ Mann zu sein, der eine Niederlage würdevoll
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