Chroniken der Unterwelt Bd. 2 City of Ashes
er bei mir bleibt; aber er hat mein Angebot abgelehnt und ist zu dir zurückgekehrt. Und du willst nun an ihm Rache üben, genau wie ich es ihm vorausgesagt habe. Wenn du etwas bist, Imogen«, schloss er, »dann vorhersehbar.«
Die Inquisitorin schien die Beleidigung nicht zu bemerken. »Der Rat wird auf seinem Tod bestehen, wenn du mir die Insignien der Engel nicht übergibst«, sagte sie wie jemand, der in einem Albtraum gefangen war. »Ich werde ihn nicht aufhalten können.«
»Das ist mir bewusst«, meinte Valentin leichthin. »Doch ich kann nichts dagegen tun. Ich habe Jonathan eine Chance gegeben. Aber er hat sie nicht angenommen.«
»Mistkerl!«, schrie Isabelle plötzlich und machte Anstalten, auf Valentin loszugehen. Alec packte sie am Arm, zog sie zurück und hielt sie fest. »Er ist ein Arschloch«, zischte sie. Dann hob sie die Stimme und schrie Valentin an: »Du bist ein …«
»Isabelle!« Alec legte seiner Schwester die Hand auf den Mund, während Valentin sie beide mit einem kurzen, belustigten Blick musterte.
»Du … hast ihm … Sicherheit geboten …?« Allmählich erinnerte die Inquisitorin Alec an einen Roboter, dessen Stromkreise einen Kurzschluss hatten. »Und er hat dir einen Korb gegeben?« Sie schüttelte den Kopf. »Aber er ist doch dein Spion … deine Waffe …«
»Das hast du geglaubt?«, fragte Valentin mit offenbar aufrichtiger Überraschung. »Ich habe gar kein Interesse daran, die Geheimnisse des Rats auszuspionieren. Ich bin einzig und allein an seiner Zerstörung interessiert, und um dieses Ziel zu erreichen, habe ich weit stärkere Waffen in meinem Arsenal als einen Jungen.«
»Aber …«
»Glaub, was du willst«, sagte Valentin und zuckte die Achseln. »Du bist ein Nichts, Imogen Herondale. Die Galionsfigur eines Regimes, dessen Macht bald zerschlagen, dessen Herrschaft bald beendet sein wird. Es gibt nichts, was du mir anbieten könntest, das für mich von Interesse wäre.«
»Valentin!« Die Inquisitorin warf sich nach vorn, als könne sie ihn aufhalten und nach ihm greifen, doch ihre Hände fuhren lediglich durch ihn hindurch wie durch Wasser. Mit angewiderter Miene trat er einen Schritt zurück und verschwand.
Am Himmel züngelten die letzten Strahlen verblassenden Sonnenlichts; das Wasser hatte die Farbe von Eisen angenommen. Zitternd zog Clary ihre Jacke fester um sich.
»Ist dir kalt?« Jace hatte an der Ladekante gestanden und den Kielsog hinter ihnen betrachtet: zwei weiße Schaumlinien, die das Wasser durchschnitten. Nun kam er auf sie zu und setzte sich neben sie, den Rücken gegen das Heckfenster der Fahrerkabine gelehnt. Die Scheibe war von innen fast vollständig mit bläulichem Nebel beschlagen.
»Dir denn nicht?«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf, zog seine Jacke aus und reichte sie ihr. Clary streifte sie über und versank förmlich darin. Die Jacke war – allerdings auf eine behagliche Weise – viel zu groß; sie kuschelte sich hinein und genoss die Weichheit des Leders. »Du bleibst im Wagen, wie Luke es dir gesagt hat, okay?«, sagte Jace.
»Habe ich denn eine Wahl?«
»Eigentlich nicht, nein.«
Sie zog einen der Handschuhe aus und reichte ihm ihre
Hand. Jace nahm sie und hielt sie fest. Clary blickte auf ihre ineinanderverschlungenen Finger: Ihre waren klein und an der Spitze breiter, seine lang und dünn. »Du wirst Simon für mich finden«, sagte sie. »Ich weiß es.«
»Clary.« Sie sah, wie sich das Wasser in seinen Augen spiegelte. »Er ist vielleicht … Ich meine, möglicherweise ist er …«
»Nein.« Ihr Tonfall ließ keinen Zweifel zu. »Es geht ihm bestimmt gut. Das muss es einfach.«
Jace stieß einen Seufzer aus. Dunkelblaues Wasser kräuselte sich in seinen Pupillen – wie Tränen, dachte Clary, aber es waren keine Tränen, sondern lediglich Reflexionen. »Es gibt da etwas, das ich dich fragen wollte«, sagte er. »Bis jetzt habe ich mich nicht getraut. Aber im Moment fürchte ich mich vor nichts mehr.« Er legte ihr eine Hand an die Wange, wärmte ihre kalte Haut. Plötzlich merkte Clary, dass auch ihre Angst verschwunden war, als könne er durch seine Berührung die Kraft der Furchtlosigkeitsrune auf sie übertragen. Sie hob das Kinn und ihre Lippen öffneten sich erwartungsvoll. Sein Mund streifte ihren ganz leicht, so leicht wie die flüchtige Berührung einer Feder, die Erinnerung an einen Kuss. Doch dann zog er sich zurück und seine Augen weiteten sich ungläubig. Sie sah, wie sich in seinen Pupillen eine
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