Chroniken der Unterwelt Bd. 3 City of Glass
es nun mal nicht, wenn andere Leute einfach meine Sachen nehmen.« Max drückte das Comicbuch fest an sich.
»Jetzt benimm dich nicht so kindisch. Er hat es sich doch nur geborgt.« Isabelles Stimme klang ärgerlicher als beabsichtigt. Sie machte sich noch immer Sorgen wegen Jace und wusste, dass sie das an ihrem kleinen Bruder ausließ. »Außerdem solltest du längst im Bett sein. Es ist schon spät.«
»Oben auf dem Hügel waren irgendwelche laute Stimmen. Die haben mich aufgeweckt.« Max blinzelte; ohne seine Brille konnte er nicht besonders gut sehen. »Isabelle …«
Der fragende Unterton in seiner Stimme weckte ihre Aufmerksamkeit. Isabelle drehte sich vom Fenster fort und schaute ihn an. »Was ist denn?«
»Klettern eigentlich viele Leute auf die Dämonentürme?«
Aline schaute von ihrem Buch auf, das sie wieder aufgeschlagen hatte. »Auf die Dämonentürme klettern?« Sie lachte. »Nein, niemand klettert dahinauf. Zum einen ist es strikt verboten und zum anderen: Warum sollte jemand so was wollen?«
Aline besitzt nicht gerade viel Fantasie, überlegte Isabelle. Ihr selbst fielen auf Anhieb etliche Gründe ein, warum jemand auf einen der Dämonentürme klettern wollte - und sei es nur, um ahnungslose Passanten von dort oben mit Kaugummi zu bespucken.
Max runzelte die Stirn. »Aber da ist jemand hinaufgeklettert. Ich hab es ganz deutlich gesehen …«
»Das musst du geträumt haben«, schnaubte Isabelle.
Als Max verärgert das Gesicht verzog, spürte Alec einen möglichen Streit aufkommen und stand rasch auf. »Komm, Max«, sagte er nicht unfreundlich und streckte seinem Bruder eine Hand entgegen. »Wir bringen dich wieder ins Bett.«
»Wir sollten alle ins Bett gehen«, meinte Aline, erhob sich vom Sofa und ging hinüber zu Isabelle, um die Vorhänge zuzuziehen. »Es ist schon fast Mitternacht. Wer weiß, wie lange die Sitzung in der Garnison noch dauert. Es hat keinen Zweck, länger aufzubleiben und zu wart…«
In dem Moment schlug der Anhänger an Isabelles Kehle erneut heftig aus und einen Sekundenbruchteil später zersplitterte das Fenster, vor dem Aline stand, mit ohrenbetäubendem Klirren. Entsetzt schrie Aline auf, als irgendetwas durch die Öffnung in der Scheibe griff- keine Hände, sondern riesige, schuppige Klauen, wie Isabelle mit schockierender Klarheit erkannte. Blut klebte daran und eine schwarze Flüssigkeit. Die Klauen packten Aline und zerrten sie durch die zerschlagene Fensterscheibe, ehe sie auch nur einen zweiten Schrei ausstoßen konnte.
Sofort stürzte Isabelle zum Beistelltisch neben dem offenen Kamin, wo ihre Peitsche lag. Dabei konnte sie Sebastian gerade noch ausweichen, der aus der Küche angestürmt kam. »Hol die Waffen!«, schrie sie ihm zu, als er sich verblüfft im Raum umsah. »Nun mach schon/«, brüllte sie und rannte zum Fenster.
Alec, der neben dem Kamin gestanden hatte, schnappte sich Max, der sich laut protestierend aus der Umklammerung seines Bruders zu befreien versuchte, und zog ihn zur Tür.
Gut, dachte Isabelle. Bring Max hier weg.
Kalte Luft wehte durch die zerbrochene Scheibe herein. Isabelle schürzte den Rock ihres Kleides und trat die restlichen Glasscherben aus dem Fensterrahmen, dankbar für die dicken Sohlen ihrer Stiefel. Dann duckte sie den Kopf, sprang durch die gähnende Öffnung und landete hart auf dem Gehweg hinter dem Haus.
Die Straße schien auf den ersten Blick leer zu sein. Entlang des Kanals gab es keine Laternen und das einzige Licht, das auf den Weg fiel, stammte aus den Fenstern eines nahe gelegenen Hauses. Vorsichtig bewegte Isabelle sich vorwärts, ihre Elektrumpeitsche aufgerollt in der Hand. Diese Waffe befand sich schon so lange in ihrem Besitz - sie hatte sie zu ihrem zwölften Geburtstag geschenkt bekommen -, dass sie sich wie ein Teil von ihr anfühlte, wie eine geschmeidige Verlängerung ihres rechten Arms.
Die Dunkelheit schien sich zu verdichten, als Isabelle sich vom Haus fortbewegte und in Richtung der Oldcastle-Brücke lief, die in einem seltsamen Winkel über den Princewater-Kanal zum Fußpfad führte. An ihren Pfeilern hatten sich tiefe schwarze Schatten gebildet, die reglos dalagen. Doch plötzlich bemerkte Isabelle eine Bewegung: Irgendetwas Weißes rührte sich blitzschnell.
Isabelle zögerte keine Sekunde und sprintete los: durch eine Reihe niedriger Hecken am Ende eines Gartens und hinunter auf den schmalen Ziegelsteinweg, der unter der Brücke verlief. Ihre Peitsche hatte zu glühen begonnen und
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