Chroniken der Unterwelt Bd. 3 City of Glass
für sie tue. Das würdest du doch auch für deine Mutter tun, oder etwa nicht?«
»Natürlich würde ich das«, wand Isabelle sich. »Aber Clary, Jace hat seine Gründe …«
»Dann würde ich sie mir zu gern einmal anhören.« Geschickt tauchte Clary unter Isabelles Arm hindurch und schlüpfte in den Eingangsbereich.
»Clary!«, quietschte Isabelle und stürzte hinter ihr her, doch Clary hatte bereits die Mitte des Raums erreicht. Während sie einerseits Isabelle auswich, die ihr nachstellte, registrierte sie andererseits, dass der Aufbau des Hauses dem von Amatis’ ähnelte: Es war hoch und schmal, aber bedeutend größer und prächtiger dekoriert. Der Eingangsbereich öffnete sich zu einem Raum mit hohen Fenstern, die auf einen breiten Kanal hinausgingen. Boote mit weißen Segeln trieben auf den Wellen wie Pusteblumen im Wind. Vor einem der Fenster saß ein dunkelhaariger Junge auf einem Sofa, offenbar in ein Buch vertieft.
»Sebastian!«, rief Isabelle. »Lass sie nicht nach oben!« Verwirrt schaute der Junge auf - und stand einen Sekundenbruchteil später vor Clary und versperrte ihr den Weg zur Treppe. Clary blieb abrupt stehen; nie zuvor hatte sie jemanden gesehen, der sich so schnell bewegen konnte - abgesehen von Jace. Der Junge war noch nicht einmal außer Atem; genau genommen lächelte er sie sogar an.
»Dann ist das also die berühmte Clary.« Das Lächeln ließ sein Gesicht aufleuchten und Clary spürte, wie sie unwillkürlich die Luft anhielt. Jahrelang hatte sie ihren eigenen Comicstrip gezeichnet - die Geschichte eines Königssohns, der mit einem Fluch belegt war: Jeder, den er liebte, musste sterben. Clary hatte sich richtig ins Zeug gelegt und mit viel Herzblut ihren dunkelhaarigen, romantischen, düsteren Traumprinzen erschaffen - und nun stand er vor ihr: dieselbe blasse Haut, dieselben zerzausten Haare, dieselben hohen Wangenknochen und tief in den Höhlen liegende Augen, die so dunkel waren, dass die Pupillen mit der Iris zu verschmelzen schienen. Clary wusste, dass sie diesen Jungen noch nie zuvor gesehen hatte, und dennoch …
Der Junge schaute verwirrt. »Ich glaube nicht, dass wir … Sind wir uns schon mal begegnet?«
Sprachlos schüttelte Clary den Kopf.
»Sebastian!« Isabelles Haar hatte sich gelöst und war ihr über die Schultern gefallen. Wütend funkelte sie den Jungen an. »Du sollst nicht nett zu ihr sein! Sie hat hier nichts zu suchen. Clary, fahr nach Hause!«
Mühsam riss Clary sich von Sebastians Antlitz los und warf Isabelle einen verärgerten Blick zu. »Was? Zurück nach New York? Und wie soll ich das deiner Meinung nach anstellen?«
»Wie bist du denn hierher gekommen?«, fragte Sebastian neugierig. »Es ist eine echte Leistung, sich unbemerkt in die Stadt einzuschleichen.«
»Ich bin durch ein Portal gekommen«, sagte Clary.
»Ein Portal?« Isabelle starrte sie erstaunt an. »Aber in New York gibt es doch überhaupt kein Portal mehr. Valentin hat beide zerstört…«
»Ich bin dir keinerlei Rechenschaft schuldig«, entgegnete Clary. »Nicht, solange du mir nicht deinerseits ein paar Dinge erklärst. Da wäre zum Beispiel die Frage: Wo ist Jace?«
»Er ist nicht hier«, verkündete Isabelle - zeitgleich mit Sebastian, der »Er ist oben« erwiderte.
Sofort fuhr Isabelle ihn an. »Sebastian! Halt die Klappe!«
Sebastian zog ein verdutztes Gesicht. »Aber sie ist doch seine Schwester. Würde er sie denn nicht sehen wollen?«
Isabelle öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder. Clary erkannte an ihrem Gesichtsausdruck, dass sie überlegte, ob es klug wäre, einem vollkommen ahnungslosen Sebastian Clarys komplizierte Beziehung zu Jace zu erläutern, oder ob es ratsamer schien, Jace eine unliebsame Überraschung zu bereiten. Schließlich riss Isabelle entnervt die Arme hoch. »Na schön, Clary«, sagte sie mit einem für sie ungewohnt verärgerten Ton in der Stimme. »Geh und tu, was du nicht lassen kannst. Ganz gleich, wen du damit verletzt. Das ist dir ja sowieso egal, oder?«
Autsch. Clary warf Isabelle einen vorwurfsvollen Blick zu und wandte sich dann wieder Sebastian zu, der schweigend einen Schritt beiseitetrat. Clary stürmte an ihm vorbei und die Treppe hinauf, während sie von unten vage Isabelles aufgebrachte Stimme wahrnahm, die den unglückseligen Sebastian anfauchte. Aber so war Isabelle nun mal: Wenn zufällig ein Junge herumstand und sie jemanden brauchte, dem sie die Schuld in die Schuhe schieben konnte, dann kannte sie keine
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