Chroniken der Unterwelt Bd. 3 City of Glass
während der Inquisitor daraufwartete, dass Simon sich »erinnerte«. Du siehst doch sicherlich, welchen Eindruck das erweckt. In seinen schlimmsten Befürchtungen und übelsten Albträumen war es Simon nie in den Sinn gekommen, dass irgendjemand denken könnte, er wäre ein Verbündeter Valentins. Bekanntermaßen hasste Valentin alle Schattenweltler. Valentin hatte ihm die Kehle aufgeschlitzt, ihm fast sämtliches Blut entzogen und ihn zum Sterben in einem eisigen Raum zurückgelassen. Obwohl der Inquisitor von diesen Details natürlich nichts wusste, überlegte Simon.
Plötzlich ertönte auf der anderen Seite der Zellenwand ein Rascheln. »Ich muss gestehen, dass ich meine Zweifel hatte, ob du noch einmal hierher zurückkommen würdest«, sagte die heisere Stimme, die ihn in der Nacht zuvor schon angesprochen hatte. »Dann gehe ich wohl recht in der Annahme, dass du dem Inquisitor das, was er wollte, nicht gegeben hast?«
»Nein, ich glaub nicht«, murmelte Simon, stand auf und ging zur Zellenwand. Tastend fuhr er mit den Fingern über das Mauerwerk, als suchte er nach einem Riss oder Spalt, durch den er hindurchschauen konnte - doch es ließ sich nichts erkennen. »Wer sind Sie?«
»Er ist ziemlich hartnäckig … Aldertree«, fuhr die Stimme fort, als hätte Simon überhaupt nichts gesagt. »Er wird es wieder versuchen.«
Simon lehnte sich gegen die feuchte Mauer. »Dann werde ich wohl eine ganze Weile hier unten sein.«
»Ich nehme nicht an, dass du mir verraten möchtest, was er von dir will?«
»Warum wollen Sie das wissen?«
Das unterdrückte Lachen, das auf Simons Frage folgte, klang wie kratzendes Metall auf Stein. »Ich sitze in dieser Zelle schon wesentlich länger als du, Tageslichtler, und wie du ja selbst weißt, gibt es hier unten nicht viel Zerstreuung. Jede kleinste Neuigkeit ist da sehr willkommen.«
Vorsichtig verschränkte Simon die Hände über seinem Magen. Das Hirschblut hatte den schlimmsten Hunger gestillt, aber die Menge war nicht annähernd genug, um seinen noch immer vor Durst schmerzenden Körper zu beruhigen. »Tageslichtler? Warum nennen Sie mich eigentlich dauernd so?«, fragte er. ‘ . ,
»Ich habe gehört, wie die Wachen von dir gesprochen haben: ein Vampir, der am helllichten Tage herumspazieren kann. So etwas hat noch niemand zuvor zu sehen bekommen.«
»Und trotzdem haben Sie einen Begriff dafür. Wie praktisch.«
»Das ist ein Schattenwesen-Ausdruck, kein Begriff des Rats. Die Schattenwelt kennt diverse Mythen und Sagen von Kreaturen wie dir. Ich bin überrascht, dass du noch nie davon gehört hast.«
»Ich bin noch nicht sehr lange ein Schattenweltler«, räumte Simon ein. »Aber Sie scheinen verdammt viel über mich zu wissen.«
»Die Wachen tratschen gern«, erklärte die Stimme. »Und die Tatsache, dass die Lightwoods mit einem blutenden, im Sterben liegenden Vampir durch das Portal hierhergekommen sind … das ergibt schon ganz ordentlichen Gesprächsstoff. Allerdings muss ich gestehen, dass ich nicht damit gerechnet habe, dich hier unten zu sehen - jedenfalls nicht bis zu dem Moment, als die Wachen mit den Vorbereitungen für deine Zelle begannen. Es wundert mich, dass die Lightwoods das einfach so hingenommen haben.«
»Warum sollten sie auch nicht?«, erwiderte Simon bitter. »Ich bin ein Niemand. Ein Schattenweltler.«
»Vielleicht in den Augen des Konsuls«, sagte die Stimme. »Aber die Lightwoods …«
»Was soll mit ihnen sein?«
Es entstand eine kurze Stille, dann setzte die Stimme erneut an: »Die Schattenjäger, die außerhalb Idris’ leben - vor allem diejenigen, die ein Institut leiten -, sind in der Regel toleranter. Dagegen sind die örtlichen Ratsmitglieder wesentlich… engstirniger.«
»Und was ist mit Ihnen?«, hakte Simon nach. »Sind Sie auch ein Schattenweltler?«
»Ein Schattenweltler?« Simon war sich nicht ganz sicher, glaubte aber, eine verhaltene Wut in der Stimme des Fremden zu hören, als nähme er diese Frage übel. »Ich heiße Samuel. Samuel Blackburn. Ich bin ein Nephilim. Einst gehörte ich dem Kreis an, zusammen mit Valentin. Während des Aufstands habe ich etliche Schattenwesen abgeschlachtet. Ich bin keiner von ihnen.«
»Oh.« Simon musste schlucken. Er hatte einen salzigen Geschmack im Mund. Die Mitglieder von Valentins Kreis waren allesamt gefangen genommen und vom Rat bestraft worden, erinnerte er sich - bis auf diejenigen, die wie die Lightwoods eine Abmachung mit dem Rat aushandeln konnten und ein Leben
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