Chroniken der Unterwelt Bd. 4 City of fallen Angels
schien ihre besondere Gabe nach der Erschaffung der Vereinigungsrune in Idris in den letzten Wochen offenbar brachzuliegen. Sie verspürte nicht das geringste Bedürfnis, uralte Runen zu zeichnen oder irgendwelche neuen zu entwerfen. Maryse hatte ihr gesagt, man würde versuchen, einen Spezialisten für Runen als ihren Lehrer zu gewinnen, sobald ihre Ausbildung richtig begonnen habe, doch bisher war in dieser Richtung nicht viel passiert. Aber das machte Clary nicht viel aus: Sie musste sich eingestehen, dass sie nicht allzu traurig sein würde, wenn ihre Fähigkeit für immer verschwunden bliebe.
»Es wird Situationen geben, in denen du einem Dämonen begegnest, aber keinerlei Waffe zur Verfügung hast«, dozierte Jace, während sie unter einer Baumreihe hindurchgingen, deren tief hängende Blätter die gesamte Palette von Grün bis Leuchtendgold präsentierten. »In solch einem Moment darfst du auf keinen Fall in Panik geraten. Erstens musst du dich daran erinnern, dass alles und jedes als Waffe genutzt werden kann: ein Ast, eine Handvoll Münzen — übrigens ein hervorragender Schlagring-Ersatz —, ein Schuh, einfach alles. Und zweitens darfst du nicht vergessen, dass du selbst eine Waffe bist. Wenn dein Training erst einmal abgeschlossen ist, solltest du theoretisch in der Lage sein, ein Loch in die Wand zu treten oder mit einem einzigen Schlag einen Elch niederzustrecken.«
»Ich würde niemals einen Elch schlagen«, protestierte Clary. »Sie sind vom Aussterben bedroht.«
Jace musste grinsen und wandte sich ihr zu. Inzwischen hatten sie die Lichtung inmitten des Hains erreicht — eine kleine, gerodete Fläche im Schutz der Bäume, deren Stämme Runen trugen und das Gelände damit als Schattenjägerterrain deklarierten.
»Es gibt einen uralten Kampfstil namens Muay Thai, auch ›Thaiboxen‹ genannt. Schon mal davon gehört?«, fragte Jace.
Clary schüttelte den Kopf. Die Sonne schien strahlend und beständig vom Himmel, sodass es ihr in ihrem Trainingsanzug fast schon zu warm war.
Jace zog die Jacke aus und streckte und dehnte seine schlanken Pianistenhände. Im herbstlichen Licht schimmerten seine Augen in einem leuchtenden Goldton. Runen für Schnelligkeit, Beweglichkeit und Kraft wanden sich wie verschlungene Ranken von seinen Handgelenken über die ausgeprägte Oberarmmuskulatur bis zum Rand seines T-Shirts, wo sie unter dem Stoff verschwanden. Clary fragte sich, warum er sich die Mühe gemacht und all diese Runen aufgetragen hatte, so als sei sie ein Feind, mit dessen Angriff man jederzeit rechnen müsse.
»Gerüchten zufolge soll der neue Tutor, den wir nächste Woche bekommen, ein Meister im Thaiboxen sein«, erklärte er nun. »Es heißt, er sei außerdem Spezialist für Sambo, Lethwei, Tomoi, Krav Maga, Jiu-Jitsu und einen weiteren Kampfstil, an dessen Name ich mich nicht mehr erinnern kann, der aber das Töten mit kleinen Stäben oder so was Ähnlichem beinhaltet. Was ich sagen will, ist: Der oder die neue Lehrkraft dürfte nicht daran gewöhnt sein, mit jemandem deines Alters zu trainieren, der so unerfahren ist wie du. Wenn wir dir also ein paar Grundlagen beibringen, erreichen wir hoffentlich, dass er oder sie sich dir gegenüber etwas großmütiger zeigen wird«, erläuterte er. Dann streckte er die Arme aus und legte seine Hände auf Clarys Hüften. »Okay, jetzt dreh dich zu mir.«
Clary tat wie ihr geheißen. Als sie sich direkt gegenüberstanden, reichte ihr Scheitel gerade einmal bis zu seinem Kinn. Locker legte sie ihre Hände auf seine Oberarmmuskeln.
»Muay Thai wird als die ›Kunst der acht Gliedmaßen‹ bezeichnet. Weil man dabei nämlich nicht nur seine Fäuste und Füße als Waffe einsetzt, sondern auch Knie und Ellbogen. Zuerst musst du deinen Gegner zu dir heranziehen und dann schlägst du mit jedem deiner ›Waffen‹ zu, bis er oder sie zu Boden geht.«
»Und das funktioniert bei Dämonen?«, fragte Clary und hob skeptisch die Augenbrauen.
»Bei den kleineren.« Jace trat einen Schritt näher. »Okay. Streck deine Hand aus und leg sie mir in den Nacken!«
Clary schaffte es gerade so, seiner Aufforderung nachzukommen, ohne sich auf die Zehenspitzen zu stellen — nicht zum ersten Mal verfluchte sie die Tatsache, dass sie so klein war.
»Jetzt mach dasselbe mit deiner anderen Hand und verschränk beide Hände in meinem Nacken!«
Clary befolgte Jace’ Anweisung. Sein Nacken fühlte sich von der Sonne ganz warm an und seine weichen Haare kitzelten sie an den
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