Chroniken der Unterwelt Bd. 4 City of fallen Angels
rissen ihn von ihr herunter.
Kyle — kreidebleich im Gesicht und noch zerzaust und verschwitzt vom Auftritt — zerrte ihn regelrecht auf die Beine. »Was zum Teufel ist hier los, Simon? Was zum Teufel …?«, stieß er hervor.
»Das hab ich nicht gewollt«, keuchte Simon. Seine Stimme klang selbst in seinen eigenen Ohren irgendwie vernuschelt; seine Fangzähne waren noch nicht in ihre Scheiden zurückgeglitten und ihm fehlte es an Übung, um diese verdammten Dinger herumzusprechen. Hinter Kyle sah er Maureen auf dem Boden liegen, zusammengekrümmt und erschreckend reglos. »Es ist einfach passiert …«
»Ich hab’s dir doch gesagt. Ich hab dich doch gewarnt!« Kyles Stimme war laut geworden und er versetzte Simon einen harten Stoß.
Simon taumelte rückwärts und seine Stirn schien zu glühen, als eine unsichtbare Hand Kyle am Kragen packte, ihn hochhob und durch den Gang schleuderte.
Kyle prallte gegen die Mauer, rutschte an ihr herab und landete in einer wolfsähnlichen Haltung auf dem Boden — auf Händen und Knien. Schwankend rappelte er sich auf und starrte Simon an. »Oh Mann, Simon …«
Doch Simon kniete bereits neben Maureen und betastete fieberhaft ihre Kehle, auf der Suche nach einem Puls. Als ihr Herzschlag schwach, aber beständig unter seinen Fingerspitzen flatterte, wäre er vor Erleichterung fast in Tränen ausgebrochen.
»Rühr sie nicht an«, befahl Kyle mit angespannter Stimme und baute sich vor Simon auf. »Steh auf und mach mal Platz!«
Widerstrebend richtete Simon sich auf und musterte Kyle über Maureens schlaffen Körper hinweg. Ein Lichtstrahl fiel durch eine Lücke im Vorhang, der die Bühne vom Gang trennte; er konnte die anderen Bandmitglieder hören, die sich lachend unterhielten und mit dem Abbau begonnen hatten. Jeden Moment würde einer von ihnen hinter die Bühne kommen.
»Was war das da gerade?«, fragte Kyle. »Hast du … hast du mich weggestoßen? Ich hab nämlich überhaupt nicht gesehen, wie du dich bewegt hast.«
»Das hab ich nicht gewollt«, murmelte Simon erneut mit kläglicher Stimme. Etwas anderes schien er in letzter Zeit kaum noch über die Lippen zu bringen.
Kyle schüttelte wild den Kopf. »Mach, dass du rauskommst. Warte draußen beim Wagen. Ich kümmere mich um sie.« Dann bückte er sich und hob Maureen hoch. Vor seinem breiten Brustkorb wirkte sie winzig, wie eine Puppe. Wütend funkelte er Simon an. »Verschwinde endlich. Und ich hoffe, du fühlst dich richtig mies.«
Langsam setzte Simon sich in Bewegung, marschierte zur Feuerschutztür und drückte dagegen. Die Tür ließ sich mühelos und ohne jedes Geräusch öffnen; die Alarmanlage war schon seit Monaten defekt. Als die schwere Tür hinter ihm ins Schloss fiel, lehnte er sich gegen die rückwärtige Mauer des Clubs und begann im nächsten Moment, am ganzen Körper zu zittern.
Die Alto Bar ging hinten auf eine schmale Straße hinaus, die von Lagerhäusern gesäumt war. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich ein Stück Brachland, das mit einem halb verfallenen, durchhängenden Maschendrahtzaun abgesperrt war. Hässliches Gestrüpp wucherte in den Rissen im Gehweg. Es regnete in Strömen und kleine Bäche weichten den über die Straße verteilten Müll auf und trieben leere Bierdosen zu den überlaufenden Rinnsteinen.
Doch Simon empfand den Anblick als das Schönste, was er je gesehen hatte. Die gesamte Nachtluft schien in den Farben des Spektrums zu leuchten. Der Zaun bestand aus glitzernden Silberdrahtmaschen und jeder Regentropfen wirkte wie eine Träne aus Platin. Selbst die Grasbüschel, die aus dem brüchigen Asphalt hervorquollen, züngelten wie Feuer.
Ich hoffe, du fühlst dich richtig mies, hatte Kyle gesagt. Aber das hier war viel schlimmer: Er fühlte sich fantastisch, so lebendig wie noch nie zuvor. Wogen der Energie strömten durch seinen Körper wie in einem Stromkreislauf. Die Schmerzen in seinem Kopf und seinem Magen waren wie weggeblasen. Er hätte auf der Stelle einen Marathon laufen können.
Es war schrecklich.
»Hey, du da. Alles in Ordnung?« Eine leicht spöttische, kultiviert klingende Stimme sprach ihn von hinten an.
Simon drehte sich um und sah eine Frau in einem langen schwarzen Trenchcoat mit einem aufgespannten leuchtend gelben Regenschirm über ihrem Kopf. Mit seinem nagelneuen prismenhaften Sehvermögen wirkte der Schirm wie eine glühende Sonnenblume. Die Frau war von strahlender Schönheit (obwohl ihm im Moment alles strahlend schön vorkam):
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