Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser
herabbaumelte. Das Seil gab ein Stück nach, hielt aber. Die groben Hanffasern schnitten in seine Finger. Aus dem Augenwinkel sah er, wie unter ihm die Bruchstücke der Planke immer tiefer stürzten und schließlich auf einem Felsvorsprung zerschellten. Vor Angst griff er noch fester zu. Doch schon drohte eine neue Gefahr.
Der Lastensegler war durch den Aufprall in Bewegung geraten. Immer weiter trieb er auf die Felswand zu – mit Oskar dazwischen. Der tonnenschwere Rumpf würde ihn wie eine Fliege zerquetschen, wenn nicht schnell etwas geschah. Die Frage war nur, was? Wenn er losließ, würde er der Holzlatte in die Tiefe folgen und sterben. Blieb also nur der Weg nach oben. Es fehlte ihm jedoch die Kraft, sich hochzuziehen. Das Seil war rutschig wie ein Aal. Seine Finger glitten immer wieder von den Fasern ab. Selbst unter Aufbietung all seiner Kräfte konnte er nur verhindern, dass er immer weiter abrutschte. Wenn er versuchte, nach oben zu greifen, würde er unter Garantie völlig den Halt verlieren.
Verzweifelt zappelte er mit den Beinen, in der Hoffnung, irgendetwas zu finden, woran er sich festklammern konnte, doch da war nichts. Der Rumpf war für seine Beine unerreichbar. Immer näher kam die Felswand. Er wollte schon die Augen schließen und ein Stoßgebet zum Himmel schicken, als er über sich eine Stimme hörte.
»Hier. Greif zu.« Es war Humboldt.
Oskar ergriff seine Hand und ließ sich von ihm in die Höhe ziehen. Keinen Moment zu früh. Die Pachacutec prallte mit einem markerschütternden Knirschen gegen die Steilwand. Oskar stolperte und konnte sich gerade noch an einer Strickleiter festhalten, sonst wäre er der Länge nach auf das Deck geklatscht.
Auf einmal sprang vom anderen Schiff her eine rot gekleidete Frau an Bord. Sie war groß, mindestens so groß wie er. Ihre dunkelrote Lockenpracht war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihre Augen leuchteten in tiefstem Smaragdgrün. In der einen Hand schimmerte ein gefährlich aussehendes asiatisches Schwert, in der anderen ein schwarzer Stab. Breitbeinig landete sie auf dem Oberdeck, durchtrennte mit einigen wohlgezielten Schlägen die Stromkabel und Ruderseile und machte das Schiff manövrierunfähig. Die beiden Krieger, die zum Schutz Yupans mit an Bord gekommen waren, gingen sofort zum Angriff über. Oskar sah, wie sie ihre Schwerter zogen und auf die Frau zustürmten. Er bezweifelte keine Sekunde, dass sie die Söldnerin in wenigen Augenblicken überwältigen würden. Womit er nicht rechnete, war die Schnelligkeit, die diese Frau an den Tag legte. Ihre Bewegungen waren so geschmeidig und elegant, dass man glaubte, ein Schilfrohr vor sich zu haben, das sich im Wind bog. Die Schwertstreiche der Wachen gingen allesamt ins Leere, während die Frau unter ihnen hindurchtauchte, wieder auf die Füße sprang und den schwer gepanzerten Männern ins Kreuz trat. Die Krieger stolperten und krachten mit den Köpfen gegen die gegenüberliegende Reling. Noch ehe sie wieder aufstehen und erneut zum Angriff übergehen konnten, war die Söldnerin bei ihnen, zog zwei metallisch glänzende Bänder aus ihrer Tasche und fesselte erst den einen, dann den anderen.
Oskar konnte nicht glauben, mit welcher Geschwindigkeit und Eleganz sie den Angriff pariert hatte. Jeder Griff wirkte einstudiert, jeder Schritt geplant. Trotzdem: Auf Dauer hatte sie keine Chance. Die beiden anderen Schiffe waren bis auf wenige Meter herangekommen. Auf jeder Seite standen ein Dutzend kampferprobte Männer, bereit, an Bord zu springen und sie zu überwältigen. Gegen eine solche Übermacht würde auch eine trainierte Kämpferin wie sie nichts ausrichten können.
Die Frau arbeitete schnell und gewissenhaft. Noch ehe jemand einen klaren Gedanken fassen konnte, trat sie auf Yupan zu und drückte ihm die Spitze ihres Schwertes an die Kehle. »Sag ihm, er soll seine Männer zurückziehen«, wandte sie sich an Humboldt. »Sofort.«
»Ich spreche Eure Sprache«, keuchte der Priester durch das Linguaphon. »Ich kann Euch sehr gut verstehen.«
Wenn die Söldnerin überrascht war, so ließ sie es sich nicht anmerken. »Na, umso besser«, sagte sie. »Dann haben Sie ja verstanden, was ich will. Tun Sie, was ich sage, oder ich werde Ihnen die Kehle aufschlitzen.« Sie drückte die Klinge noch fester an seinen Hals.
Humboldt trat einen Schritt vor.
Ein Raunen ging durch die Kehlen der Krieger.
Auf Yupans Stirn bildeten sich Schweißperlen. »Das werde ich nicht tun«, stieß er zwischen
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