Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser
Minuten besiegt hat. Sie beherrscht die jahrtausendealte Tradition des Shaolin Kung Fu.«
Charlotte hob die Augenbrauen. »Die Kampfkunst der chinesischen Mönche?«
Humboldt nickte. »Es ist weit mehr als das. Es ist eine Philosophie, die das ständige Bestreben nach Perfektion zum Ziel hat. Es ist eine Meisterschaft, die sich auf alle Belange des Lebens erstreckt, auf die Kunst, die Meditation, die Medizin, aber natürlich auch auf die Kampfkunst.« Er blickte in die Runde. »Der Name dieser Frau ist Valkrys Stone.« Er starrte düster in das Feuer. »Sie war das einzige weibliche Wesen, das jemals das Kloster am Berg Songshan betreten durfte.«
»Warum hat man bei ihr eine Ausnahme gemacht?«, wollte Charlotte wissen.
»Die Berichte über ihre hohe Kunstfertigkeit waren ihr vorausgeeilt«, sagte Humboldt. »Sie war damals schon eine Art Berühmtheit, weil niemand es mit ihrer Schnelligkeit und Gewandtheit aufnehmen konnte, und so öffnete man ihr ausnahmsweise die Türen. Es war allerdings Voraussetzung, dass sie zu einem Mann wurde. Also ließ sie sich die Haare scheren, zupfte sich die Wimpern und trug die klassische orangefarbene Tracht der Mönche. Der Großmeister warnte sie, dass dieser Weg vielleicht der falsche für sie wäre, doch sie schlug alle Warnungen in den Wind. Acht Jahre lebte und arbeitete sie in Songshan. Hand in Hand mit den anderen schuftete sie tagtäglich bis zum Umfallen. Sie half auf den Feldern, beim Bau des Klosters, sie lernte die Heilkunde und die Fähigkeit, sich in einen Zustand tiefster Ruhe zu versetzen. Sie beherrscht die 5-Tiere-Technik und den Umgang mit Waffen wie dem Stab, dem Schwert, den Wurfsternen, Lanzen, Hellebarden, Nadeln und vielen anderen. Sie brachte es in allen Belangen zu hoher Meisterschaft, aber weil sie eine Frau war, durfte sie keine einzige Prüfung ablegen. Sie blieb ein einfacher Mönch und musste mit ansehen, wie ihre Freunde, ihre Gefährten und Genossen an ihr vorüberzogen, einer nach dem anderen – und das, obwohl sie in allen Belangen besser war. Niemand im Kloster durfte ihr Respekt entgegenbringen. Sie war eine Großmeisterin im Gewand eines einfachen Mönches. So kam es, dass sich ihre anfängliche Faszination mit den Jahren in Frustration wandelte. Aus der Frustration entstand Ablehnung, danach Wut. Als sie das Kloster verließ, war sie zerfressen vom Hass. Sie verließ China, wechselte in die Vereinigten Staaten und ließ sich als Söldnerin anheuern. Ich habe irgendwann mal gehört, sie sei die Beste in diesem Geschäft.«
»Woher weißt du so viel über diese Frau?« Elizas Augen leuchteten hell im Schein der Flammen.
»Ich selbst habe auch einige Zeit lang in dem Kloster gelebt«, sagte Humboldt. »Ich habe dort die Techniken des Wushu gelernt.« Mit einem schwachen Lächeln tippte er an seinen Zopf. »Sie war neunzehn, als ich aufgenommen wurde, und bereits seit drei Jahren im Kloster. Als Außenstehender war ich der Einzige, der sie verstand und der Mitleid mit ihr hatte. Wir fühlten uns zueinander hingezogen – ganz im Verborgenen natürlich. Niemand durfte davon wissen. Als ich ging, ging sie auch. Wir verließen das Kloster am selben Tag, aber auf getrennten Wegen. Wir hatten verabredet, uns an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Stunde in einer Teestube in Shenyang zu treffen.«
»Und dann?« Oskar hing an Humboldts Lippen.
»Ich konnte nicht kommen. Es war etwas dazwischengekommen. Als ich Wochen später eintraf, war sie bereits fort. Ich habe sie nie wieder gesehen.«
Eliza sah den Forscher ernst an. »In meiner Vision habe ich ihr Gesicht gesehen. Es war erfüllt von Zorn. Sie weiß, dass wir hier sind, und sie setzt alles daran, uns einzuholen.«
»Warum verfolgt sie uns?«, fragte Charlotte.
Humboldt zuckte mit den Schultern. »Vermutlich ist sie mit demselben Ziel hierhergekommen wie wir. Vergesst nicht, es hat noch mehr von diesen Fotoplatten gegeben. Ich habe mal gehört, dass sie für Alfons T. Vanderbilt arbeitet, einen Zeitungsmogul in New York. Auch Harry Boswell hat für Vanderbilt gearbeitet. Und jetzt hat Vanderbilt Valkrys hergeschickt, um Boswell zu finden.«
Charlotte sah ihn mit schiefem Blick an. »Könnte es nicht sein, dass sie dir heimzahlen will, was du ihr damals angetan hast? Immerhin hast du sie sitzen lassen.«
»Auch das ist möglich.« Der Forscher starrte nachdenklich in die Glut. »Dann sind wir erst recht in Gefahr. Ich spürte schon damals die Besessenheit in ihr und den alles
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