Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser
Dieses Wesen war ein wandelnder Albtraum.
»Runter auf den Boden!«, brüllte Humboldt, während er das Insekt über die Zielvorrichtung seiner durchgeladenen Armbrust anvisierte. »Runter, und macht euch so flach, wie ihr könnt!«
Er feuerte einen Pfeil ab, der auf den Rückenpanzer prallte und mit einem surrenden Geräusch abgelenkt wurde. Mit einem Klicken drehte sich die Trommel und legte den nächsten Pfeil in den Lauf. Humboldt wollte gerade den Spannhebel ziehen, als das Insekt heranpreschte. Es stürzte sich auf ihn und warf ihn von den Füßen. Der Forscher konnte sich gerade noch zur Seite drehen, als das Biest eine Salve von Stacheln abfeuerte. Sie verfehlten ihn um Haaresbreite. Humboldt richtete die Waffe auf die über ihm aufragende, ungeschützte Bauchregion und zog den Abzug durch. Diesmal landete er einen Treffer. Mit einem markerschütternden Pfiff taumelte das Wesen zurück. Das Geräusch war so schrill, dass Oskar die Hände auf die Ohren legte. Hilflos musste er mit ansehen, wie sich die Kreatur erneut auf den am Boden liegenden Forscher stürzte. Es packte seine Hände und hielt sie gefangen. Humboldt kam nicht mehr an seine Waffe. Das scharfe Gebiss näherte sich seinem Gesicht. Oskar wollte schon die Augen schließen, als ein Klirren ertönte und eine Wolke aus Funken aufstob. Die ganze linke Seite des Insekts stand in Flammen. Kreischend ließ es von dem Forscher ab und taumelte zur Seite. Oskar blickte verwundert auf die beiden Frauen. Während Charlotte das Vieh mit einem brennenden Ast auf Abstand hielt, bewarf Eliza es mit irgendwelchen Ampullen aus ihrem schier unerschöpflichen Medizinkoffer. Als sie drei davon verbraucht hatte, brannte das Wesen lichterloh. Kreischend und zappelnd brach es zusammen und wand sich auf dem Boden. Ein unvorstellbarer Gestank breitete sich aus. Oskar hielt sich den Ärmel vor den Mund. Nach wenigen Minuten war alles vorbei.
Die vier Abenteurer standen um die Überreste und starrten angewidert auf die verkohlten Chitinplatten.
»Was in Gottes Namen ist denn das?«, fragte Charlotte, die sich von Eliza ein paar Tropfen einer wohlriechenden Tinktur auf den Handrücken träufeln ließ, diese dann verrieb und unter die Nase hielt.
»Sieht aus wie eine Form von Eurycantha calcarata«, sagte Humboldt. Als alle ihn nur verständnislos anblickten, ergänzte er: »Eine spezielle Form der Gespenstschrecken, wie es sie in Papua-Neuguinea gibt. Aber so ein riesenhaftes Exemplar ist mir noch nicht untergekommen.«
»Wie groß werden diese Biester denn normalerweise?«, fragte Oskar, dem die Küchenschaben und Kellerasseln daheim in Berlin schon unangenehm waren.
»Zwanzig bis dreißig Zentimeter«, sagte Humboldt. »Aber das hier …«, er kratzte sich am Kopf, »… das ist absolut unvergleichlich. Ich brauche dringend eine Klaue davon für meine Sammlung. Seht euch bloß diese Füße an! Mit derart hornigen Zehen würde das Wesen selbst an senkrechten Wänden nicht den Halt verlieren.« Er ging um den Kadaver herum, packte eines der hornigen Beine und brach den Fuß ab.
Oskar wurde übel.
»Vielleicht gelingt es uns sogar, eines dieser Tiere lebend zu fangen«, sagte der Forscher, als er die Probe in seiner Tasche verstaute. »Natürlich erst, wenn wir die Stadt in den Wolken gefunden haben. Aber stellt euch vor, was für ein Aufsehen wir damit in Berlin erregen würden.«
»Dann glaubst du, dass es davon noch mehr gibt, Onkel?« Charlotte sah kreidebleich aus.
»Aber natürlich.« Humboldt war ganz in seinem Element. Dass er nur knapp dem Tode entronnen war, schien ihn überhaupt nicht zu interessieren. »Wo eines ist, da sind noch mehr. Am besten, ihr geht jetzt alle wieder zurück in die Zelte. Ich werde hier den Rest der Nacht Wache halten und versuchen, die Überbleibsel dieses Tieres zu rekonstruieren. Schade, dass nur noch so wenig davon übrig ist. Musstet ihr es unbedingt flambieren?«
»Wir haben dir das Leben gerettet, falls du das nicht bemerkt hast«, sagte Eliza kopfschüttelnd, doch Humboldt schien sie schon gar nicht mehr zu hören. Mit dem Notizblock in der Hand ging er um das Wesen herum und fing an, eine detaillierte Skizze anzufertigen.
»Versuchen wir, noch etwas Schlaf zu finden«, sagte Eliza. »Wenn Carl Friedrich schon nicht aufpasst, so können wir uns doch wenigstens auf Wilma verlassen. Sie wird uns warnen, sollte sich etwas nähern. Nicht wahr, meine Kleine?«
Der Vogel gab ein angewidertes Grunzen von sich.
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Drei
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