Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser
erst richtig beginnt.«
Max blickte erst auf den Vorsprung, dann in den Abgrund. Sein Magen fühlte sich an, als würde er von einer eiskalten Hand zusammengequetscht.
»Das ist nicht Ihr Ernst.«
»Sehe ich so aus, als würde ich scherzen?«
Er schluckte. Und er hatte gerade damit begonnen, Gefallen an diesen Abenteuern zu finden.
32
Oskar steckte mitten in einem frühmorgendlichen Traum, als er unsanft aus dem Schlaf gerissen wurde. Im Halbdämmer erkannte er fünf oder sechs Gestalten, die um sein Bett herumstanden. Kräftige Arme packten ihn, richteten ihn auf, zogen ihm den Sack über den Kopf und verzurrten seine Handgelenke.
»Lasst mich los, ihr verdammten –«
Weiter kam er nicht. Er wurde gepackt, auf die Füße gestellt und aus seinem Verschlag getrieben. Dann wurde er hingelegt, seine Hände und Füße zusammengebunden und an einer Stange befestigt. Im Nu schwebte er wieder in der Luft. Rechts und links von sich hörte er die Stimmen seiner Freunde.
»Charlotte? Eliza? Humboldt? Seid ihr das?«
»Hier – Au«, kam die Antwort, unterbrochen von Stöhnen und Flüchen. »Himmel noch mal, behandelt man so seine Gäste?« Das war eindeutig die Stimme des Forschers. »Wir kommen in friedlicher Absicht.«
Oskar fiel ein Stein vom Herzen. Wenigstens war er nicht mehr allein. Mit einem scharfen Ruf setzte sich der Tross in Bewegung. Mit fliegenden Schritten trugen ihre Entführer die Gefangenen quer durch die Stadt. Diesmal allerdings war der Weg kurz. Es waren keine fünf Minuten verstrichen, da hielten sie schon wieder an.
Flüsternde Stimmen waren zu hören, dann erklang das Knarren einer sich öffnenden Tür. Mit einem bangen Gefühl in der Magengrube spürte er, wie sie in einen Raum getragen wurden. Der Geruch von verbranntem Harz und Öl hing in der Luft. Der beißende Rauch drang in den Sack und zwang ihn zu husten. Es dauerte eine Weile, bis sich seine Lungen an den Qualm gewöhnt hatten. Er fühlte, wie man sie auf den Boden runterließ, ihnen die Stricke um ihre Hände und Füße löste und an den Schlaufen ihrer Kapuzen rumfummelte. Dann entfernten sich die Schritte.
Oskar wartete eine Weile, bevor er sich die Kapuze vom Kopf zog und sich umsah. »Ihr könnt die Säcke abnehmen«, flüsterte er den anderen zu. »Ich glaube, sie sind weg.«
Er half ihnen, sich von ihrer Kopfbedeckung zu befreien, und zog sie auf die Füße. Abgesehen von seinem Herrn, der vom Kampf eine leichte Platzwunde auf der Stirn davongetragen hatte, waren alle wohlauf. Von ihrem Gepäck fehlte jede Spur. Jeder besaß nur das, was er am Leibe trug. Auch von Wilma war nichts zu sehen. Oskar konnte nur hoffen, dass es seiner kleinen Freundin gut ging.
Sie befanden sich in einer riesigen Halle. Das Licht der Fackeln warf bizarre Schatten an die Wände. Durch eine Reihe von Öffnungen im Dach fielen Lichtstrahlen, die wie gleißende Finger durch die trübe Luft schnitten. Über ihren Köpfen erhob sich eine kuppelartige Decke, deren Höhe kaum zu ermessen war. Getragen wurde sie von einer Vielzahl von Säulen, in die man indianische Symbole geschnitzt hatte. Der Boden bestand aus Reihen kompliziert ineinander verwobener Bambusstangen, auf denen wertvoll aussehende Teppiche ausgelegt waren.
In der Mitte des Raums war eine Erhebung, die die Form einer Stufenpyramide besaß. An ihrem Scheitelpunkt standen zwei uralt aussehende Obelisken, die mit einer Vielzahl von geheimnisvollen Symbolen bedeckt waren. Dazwischen ruhte ein mächtiger, geschnitzter Thron, auf dem – Oskar stockte der Atem – eine gebeugte Erscheinung saß. Ein Vogelmensch, ganz ähnlich wie die beiden riesigen Figuren an der Grenze. Über einem kurzen Hakenschnabel leuchteten zwei kalte Augen mit tödlicher Verachtung auf sie herab. Das Wesen beugte sich vor, während es sich auf einen prächtigen, mit Gold und Edelsteinen verzierten Stab stützte. Rechts von ihm stand ein kleiner Käfig, der Oskar vage vertraut vorkam. Ein feines Piepen drang an sein Ohr.
»Seht mal«, flüsterte er und deutete auf den Käfig. »Da ist Wilma.«
»Still«, raunte Humboldt ihm von der Seite zu. »Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, sich über Wilma Gedanken zu machen.« Er breitete die Arme aus und ging einen Schritt auf den Thron zu. Sofort entstand Bewegung im Raum. Aus allen Winkeln und Schatten kamen Gestalten auf sie zu. Licht schimmerte auf Speeren, auf Lanzen und Hellebarden. Das Geräusch sich spannender Bögen drang an ihre Ohren.
Humboldts Lächeln
Weitere Kostenlose Bücher