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Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser

Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser

Titel: Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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wirkte mit einem Mal wie versteinert. »Na gut, dann eben nicht«, murmelte er, während er wieder zurückging. »Einen Versuch war es wert.«
    So viel zum Thema: Übung im Umgang mit fremden Kulturen, dachte Oskar und fragte sich, wie es jetzt weitergehen würde.
    Der Vogelmensch stand auf und breitete seine Arme aus.
    »Sinchiq munasqaykuna. Wamra nust’akunallay.«
    Die Stimme hallte von den Wänden wider. Ein Scharren und Flüstern war zu hören, dann zogen sich die Wachen in die Schatten zurück. Der Vogelpriester ließ die Arme sinken und setzte sich in Bewegung. Eine lange Schleppe aus Federn hinter sich herziehend, kam er langsam die Stufen herab. Erst jetzt fiel Oskar auf, wie raffiniert die Lichtverhältnisse in diesem Raum gestaltet worden waren. Die Oberlichter waren so angeordnet, dass sich der Mann immer im Schein der Sonnenstrahlen bewegte. Er wirkte, als würde er nur aus Licht bestehen, während der Rest der Halle in Dunkelheit versank. Jeder Neuankömmling musste glauben, einem übernatürlichem Wesen gegenüberzustehen, einem Engel oder etwas Ähnlichem. Das Licht ließ ihn viel größer erscheinen, als er in Wirklichkeit war. Erst als er direkt vor ihnen stand, bemerkte Oskar, dass er ihm nicht mal bis zum Kinn reichte.
    »Nanaq llakiypitnim sunquy,
    ukbuymim llaqllapayasqa,
    yuyayniymitn chinkasqanna.«
    Der Vogelmensch sprach, als würde er Psalmen rezitieren.
    » Uk llakiytamim paqarini.«
    Singend und Beschwörungen in die Luft zaubernd, ging er um die Gefangenen herum, bis er direkt hinter Charlotte war. Dort blieb er stehen. Unter dem dichten Federkleid schoben sich zwei braune, schrumpelige Hände hervor. Sie ergriffen das lange Haar des Mädchens und breiteten es wie einen Fächer auseinander. Mit sanften Bewegungen strichen die Finger durch die Haare, die wirkten, als würden sie aus purem Gold bestehen. »Imarayku kunan tuta«, flüsterte der Priester. »Muspayniypi yananchani Hakt phutillatataqmi.«
    Charlotte stand stocksteif da. Bei den letzten Worten wandte sie kaum merklich ihren Kopf. »Musquyniypiri rikuni.«
    Der Vogelmensch stieß einen überraschten Laut aus. Mit schnellen Schritten umrundete er die Gruppe. Dabei ließ er Charlotte nicht aus den Augen. Als er vor ihr stand, berührte sein Schnabel beinahe ihr Gesicht.
    »Inti, maylliq Taytanchikta.«
    Das Mädchen nickte. »Yana q’ushninpi pakasqata.«
    Der Mann zuckte zurück. Ihre letzten Worte hatten eine erstaunliche Wirkung. Er erstarrte zur Salzsäule, dann fiel er vor Charlotte auf die Knie.

33
     
     
    Die ersten Schritte sind immer die schwersten.
    Max’ Vater hatte ihm diese Lebensweisheit mit auf den Weg gegeben, damals, an seinem ersten Schultag. Warum er gerade jetzt daran denken musste, war ihm selbst nicht klar. Er hatte niemanden gekannt, überall waren nur fremde Gesichter gewesen. Seine Freunde waren alle woanders untergekommen und die neue Schule war riesengroß. Dad hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt und mit ruhiger, tiefer Stimme gesagt: »Die ersten Schritte sind immer die schwersten.«
    Vorsichtig hob er seinen Fuß und setzte ihn auf den schmalen Sims. Eine Handvoll Staub und Geröll löste sich. Er verfolgte den Flug der Steine, während sie immer tiefer und tiefer stürzten, bis sie irgendwann im Nebel verschwanden. Max wurde übel.
    »Jetzt machen Sie mal ein bisschen«, hörte er die Stimme der Söldnerin hinter sich. »Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit. Je länger wir hier rumstehen, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass man uns entdeckt. Geben Sie sich einen Ruck und dann los!«
    Um ihrer Ermahnung zusätzlich Nachdruck zu verleihen, zog sie ein bisschen an dem Strick, den sie wie eine Nabelschnur zwischen sich und dem Redakteur gespannt hatte.
    »Mal langsam«, gab er ungehalten zurück. »Ich muss mich erst noch an die Höhe gewöhnen. Ich kraxele schließlich nicht jeden Tag eine mehrere Hundert Meter hohe Steilwand entlang.«
    »Sie sollten keine Zeit damit verplempern, nach unten zu schauen. Achten Sie vielmehr auf die zwei Meter vor Ihren Füßen«, kam es von hinten. »Das reicht völlig. Und jetzt los!«
    Max fasste sich ein Herz und konzentrierte sich auf den steinernen Sims. Dafür, dass er augenscheinlich natürlichen Ursprungs war, war er erstaunlich gut erhalten. Es gab so gut wie keine Erosionsspuren, wenn man mal von ein paar kleineren Rissen und Spalten absah, über die man aber bequem hinwegsteigen konnte. Der Granit war rau und hart und bot den Schuhen guten

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