Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser
Halt. Der Vorsprung war etwa fünfzig Zentimeter breit und führte in einer leichten Kurve bergab. Fünfzig Zentimeter. Eigentlich völlig ausreichend. Max hatte in seiner Kindheit einen ziemlich guten Gleichgewichtssinn besessen. Er war über Holzlatten, Balken und Baumstämme balanciert. Hindernisse, vor denen seine Freunde kapituliert hatten.
Natürlich war der Boden immer in greifbarer Nähe gewesen, aber sie hatten gespielt, dass ihr Weg sie über schwindelerregende Abgründe und reißende Wasserfälle führte. Wer abstürzte, war tot und musste ausscheiden. Max seufzte. Nie im Leben hätte er damit gerechnet, dass dieses Spiel einmal Wirklichkeit werden würde.
Zu allem Überfluss kam jetzt auch noch Wind auf. Er zerrte an seiner Kleidung, blies ihm ins Gesicht und zerzauste seine Haare. Nur nicht daran denken, ermahnte er sich. Konzentriere dich auf die zwei Meter vor deinen Füßen. Das ist alles, was dich interessiert. Der erste Schritt ist immer der schwerste.
Gebetsmühlenartig sagte er den Satz auf, während er seinen Rücken an die Felswand presste, die Hände an den Stein legte und im Seitwärtsschritt auf den schmalen Vorsprung hinaustrat. Die Bewegung erinnerte ihn ein wenig an Krabben, die sich seitlich über den Strand schoben, aber sie funktionierte ganz gut. Der einzige Nachteil war, dass er seinen Kopf immerzu nach links drehen musste. Allmählich bekam er einen steifen Hals. Als er es nicht mehr aushielt, blieb er stehen und gönnte sich einen Blick zurück. Überrascht stellte er fest, dass er bereits über fünfzig Meter zurückgelegt hatte.
»Sie machen das gut«, sagte Valkrys, die direkt hinter ihm ging. »Nur weiter so. So schlimm ist es doch gar nicht, oder? Sehen Sie mal, dahinten bei den Büschen ist schon das Ziel.«
In diesem Moment ertönte hoch über ihnen ein schriller Schrei.
Es war ein Laut, wie Max ihn noch nie vernommen hatte. Hoch, schrill und voller Bösartigkeit. Ein Geräusch, bei dem es einem kalt den Rücken runterlaufen konnte. Einmal, zweimal erklang der Schrei, dann verhallte er in den Tiefen der Schlucht. Selbst der Wind schien den Atem anzuhalten. Max suchte mit seinen Augen die Umgebung ab. »Großer Gott, was war denn das?«
»Ein Mensch war das gewiss nicht«, erwiderte die Söldnerin. »Dann schon eher ein Tier – aber eines, wie ich es zuvor noch nicht gehört habe. Und ich bin schon viel herumgekommen, das können Sie mir glauben.«
»Was immer es ist, es scheint nicht erfreut, dass wir in sein Revier eingedrungen sind«, sagte Max.
»Ich fürchte, dass eher das Gegenteil der Fall ist.« Valkrys blickte sich um. »Wenn mich nicht alles täuscht, stehen wir jetzt ganz oben auf der Speisekarte.« Mit einer langsamen Bewegung, ohne dabei die Balance zu verlieren, zog sie den Colt.
»Weiter«, raunte sie ihm zu, während sie mit den Augen die obere Partie der Felswand absuchte. »Machen wir, dass wir von hier wegkommen.«
Max versuchte das aufsteigende Gefühl von Panik zu unterdrücken. Jetzt nur nicht unkonzentriert werden, ermahnte er sich. Ein falscher Schritt, eine unbedachte Bewegung und es würde ein langer Flug werden. In was für eine Klemme hatte die Söldnerin ihn da wieder hineinmanövriert? Ein bodenloser Abgrund unter ihren Füßen und ein unbekannter Feind über ihnen – viel schlimmer konnte es kaum noch werden.
Er änderte seine Meinung, als das Kreischen erneut ertönte. Diesmal war es eindeutig näher. Begleitet wurde es von einem anderen Laut. Einem seltsamen Knarren oder Reiben. Als ob jemand mit einer Feile über Holz hobelte. Max rümpfte die Nase. Irrte er sich oder roch es hier plötzlich nach Knoblauch? Knoblauch! Den Geruch hatte er bei dem getöteten Insekt auch schon in der Nase gehabt.
Er drehte sich zu Valkrys um … und seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Von hinten, genau aus der aufgehenden Sonne, kam eine monströse sechsbeinige Kreatur auf sie zu.
***
Der Vogelmensch kam langsam wieder auf die Beine. Er breitete die Arme aus und hielt seinen Kopf gesenkt.
»Was hast du zu ihm gesagt?«, raunte Oskar Charlotte zu.
»Weiß ich selbst nicht so genau«, kam flüsternd die Antwort. »Er fing an, ein altes indianisches Gedicht zu zitieren. Eine Geschichte, die mir Silvia Amaron im Internat mal erzählt hat. Um ehrlich zu sein, ich habe damals nur die Hälfte verstanden. Es geht dabei um die Kraft der Sonne und des Windes. Um eine Sonnenkönigin, die übers weite Meer reist und dabei ihr Leben verliert.
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