Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser
Ich habe erst bei den letzten Sätzen gemerkt, dass er genau dieses Gedicht rezitiert. Ich dachte, es könne ja nichts schaden, wenn ich auch mal eine Zeile beitrage.« Sie lächelte entschuldigend.
»Wie es scheint, hast du genau das Richtige getan«, grinste Oskar.
»Abwarten«, sagte Charlotte.
Der Priester löste eine Schlaufe am Kinn und nahm die Maske ab. Zum Vorschein kam ein altes, weise dreinblickendes Gesicht mit einer stumpfen, leicht abgeplatteten Nase. Zwei lebhafte dunkelbraune Augen leuchteten ihnen entgegen und auf dem breiten Mund zeichnete sich ein feines Lächeln ab. Es war ein Gesicht, das in völligem Gegensatz zu der Furcht einflößenden Maske stand.
»Inti k’anchay«, sagte der Priester und deutete auf die Haare des Mädchens. »Inti k’anchay.«
Humboldt hob die Augenbrauen. »Was hat das zu bedeuten?«
»Ich glaube, er meint meine Haare«, entgegnete Charlotte. »Ihre blonde Farbe. Inti k’anchay heißt übersetzt so viel wie Sonnenlicht. «
»Bist du dir sicher?«
»Nicht hundertprozentig.« Charlotte schaute betrübt drein. »Es ist ewig her, dass ich die Sprache gelernt habe. Und auch da konnte ich nur ein paar Brocken. Gerade genug, um die Lehrer zu ärgern.«
»Verstehe.« Der Forscher reckte entschlossen sein Kinn vor. »Für einen ersten Anfang war das schon sehr vielversprechend. Aber wir müssen noch weiter kommen. Es wird Zeit, das Linguaphon zum Einsatz zu bringen. Charlotte, meinst du, dein Sprachtalent reicht dazu aus, uns unsere Sachen zu beschaffen?«
»Du meinst unsere Taschen und Rucksäcke?«
Der Forscher nickte.
»Ich kann’s ja mal versuchen.«
»Was haben Sie vor?«, fragte Oskar.
Humboldt zwinkerte ihm zu. »Zeit für ein wenig Magie.«
34
Max Pepper stand schwankend auf dem schmalen Sims. »Achtung, hinter Ihnen!«
Das Rieseninsekt kam genau auf sie zu. Seine sechs Beine erzeugten einen knarrenden Ton, während es mit unvorstellbarer Gewandtheit an der senkrechten Felswand entlangkletterte. Es war bereits so nah, dass Max sein furchterregendes Gebiss sehen konnte. Knorrige Gelenke bewegten sich, während seine hornigen und mit Schwielen versehenen Füße über den rauen Granit strichen. Ein Fauchen drang aus dem geöffneten Maul. Der betäubende Geruch nach Knoblauch und Rosenöl wehte zu ihm herüber. Er war so intensiv, dass es Max den Atem verschlug. Für einen Moment fürchtete er, ohnmächtig zu werden und in die abgrundtiefe Schlucht zu fallen, doch er bekam sich wieder in den Griff. Das Wesen sah genau aus wie das Insekt, das Humboldt und seine Leute unten im Tal erlegt hatten. Nur mit dem Unterschied, dass dieses hier wesentlich größer war. Seine Beine waren von blassgelber Farbe, während Hals und Rückenpanzerung dunkelbraune Streifen aufwiesen. Der Hinterleib war komplett durchscheinend und offenbarte einen Blick auf die inneren Organe. Max konnte sogar sehen, wie das Herz schlug. Viel schlimmer aber war der Kopf. Eine ganze Traube dunkelblau irisierender Kugelaugen hing über einem Maul, an dessen Rändern sich tastende und windende Tentakel befanden. Zwei kräftige Scheren und ein Wald voller Stacheln vervollständigten das Bild dieses wandelnden Albtraums.
Valkrys sah das Biest auf sich zukommen und reagierte sofort. Mit ihrer linken Hand griff sie an das Seil, das zwischen ihr und Max gespannt war, und löste den Knoten. »Weiter, Pepper. Laufen Sie. Beeilen Sie sich.« Sie zog ihren Colt und visierte das Vieh an. »Und achten Sie darauf, ob noch weitere unterwegs sind. Was wir jetzt nicht brauchen können, ist ein Hinterhalt.«
Max folgte ihrer Anweisung und sah sich um. Glücklicherweise schien dieses Exemplar ein Einzelgänger zu sein, obwohl es ja schon fast zynisch klang, unter solchen Voraussetzungen von Glück reden zu wollen. Immer weiter tastete er sich vorwärts. Die raue Felswand im Rücken spendete nur wenig Sicherheit. Max war sich des Abgrunds unter seinen Füßen stets bewusst. Er spielte kurz mit dem Gedanken, einfach loszurennen, aber das wäre Wahnsinn gewesen. Dann schon lieber in den Kiefern des Kieseninsektes sterben, dachte er, das geht wenigstens schnell. Er schob den rechten Fuß vor, zog den linken nach und immer so weiter.
Die Kreatur hatte sich in der Zwischenzeit bis auf etwa zwanzig Meter genähert. Nah genug für Valkrys, um ihr einen Schuss vor den Bug zu verpassen. Ein scharfes Knacken war zu hören, dann ein Sirren. Die Kugel sauste als Querschläger durch die Luft. Valkrys fluchte. Sie
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