Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser
Rücken zu kurieren. Er hatte Kopfschmerzen. Er vermisste sein Kopfkissen. Er vermisste sein Bett, sein Haus, seinen Garten, seine Frau und seine Tochter. Genau genommen vermisste er alles, was nicht mit dieser Reise zu tun hatte.
»Miss Stone?«, fragte er.
Keine Antwort.
»Miss?«
Erst jetzt bemerkte er, dass Valkrys’ Decke unordentlich zur Seite geschoben und Schuhe und Kleidung verschwunden waren. Die Söldnerin war ausgeflogen. Max seufzte. Was für eine rastlose Person! Ob sie überhaupt geschlafen hatte? Na, ihm konnte es ja egal sein. Früher oder später würde sie wiederkommen. Vermutlich früher, als ihm lieb war. Er stand auf, ging zu einem der Rucksäcke, holte sich eine Scheibe trockenes Brot, ein wenig Schinken und einen Schluck Wasser und begann zu essen.
Wie hatte er sich je auf ein solches Abenteuer einlassen können? Nie wieder, das schwor er sich. Kein Geld der Welt würde ihn für die Jahre entschädigen, um die er auf dieser Reise gealtert war. Wehe, Vanderbilt bezahlte ihn nicht fürstlich bei seiner Rückkehr! Wenn er überhaupt je wieder zurückkehrte, denn das stand momentan in den Sternen.
Er setzte sich auf und massierte seinen Hals. Großer Gott, seine Nackenmuskeln waren völlig steif. Jede Bewegung wurde mit einem stechenden Schmerz quittiert. Vorsichtig drehte er seinen Kopf von der einen Seite zu anderen. Dann drückte er das Kinn auf die Brust und begann mit leichten kreisenden Bewegungen. Plötzlich fiel sein Blick auf die andere Seite der Schlucht. Die Nebelbank zog vorüber und die Berge warfen im aufgehenden Sonnenlicht lange Schatten auf die gegenüberliegende Felswand. Kerzengerade richtete er sich auf. Was Max dort sah, ließ ihn seine Nackenschmerzen und sein Heimweh vergessen. Vor seinen Blicken erschien das wundersame Bild einer Stadt in den Wolken. So leicht und zauberhaft, dass sie geradewegs den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht entsprungen zu sein schien. Weiches, rosafarbenes Licht strich über Häuser, Kuppeln und Türme, beleuchtete Plätze, Brücken und Tempel und berührte Straßen, Plattformen und Hebebühnen. Lachsfarbene Mauern wechselten mit zartblauen Schatten und erzeugten ein verwirrendes Spiel aus Licht und Farbe. Einmal noch schimmerten die goldenen Dächer auf, dann wurden sie von einer dahinziehenden Wolke wieder verdeckt.
Max atmete langsam ein und aus. War das eben Wirklichkeit gewesen? Gab es diese Stadt tatsächlich oder hatte er nur einen kurzen Blick ins Paradies werfen dürfen? Er wartete noch eine Weile, doch die Vision kehrte nicht zurück.
Etwa fünf Minuten später hörte er ein Rascheln im Gebüsch. Die Zweige wurden zur Seite geschoben und Valkrys tauchte auf.
»Guten Morgen«, sagte er. »Gut geschlafen?«
»Ich habe die Brücke ausgekundschaftet.«
»Und?«
»Unpassierbar. Vier oder fünf Wachen, so genau konnte ich das nicht erkennen. Auf jeden Fall genug, um uns ernsthafte Schwierigkeiten zu bereiten.«
»Die haben Sie doch im Nu erledigt«, sagte Max mit vollem Mund. »Ist doch nur eine Kleinigkeit für jemanden mit Ihren Qualifikationen.«
»Hören Sie auf mit den Witzen, die Sache ist zu heikel. Wenn nur einer entkommt, reicht das, um uns eine ganze Horde auf den Hals zu hetzen. Unser Vorteil liegt in der Überraschung.«
»Warum wollen Sie denn überhaupt rüber?«, schmatzte er. »Beobachten können wir auch von hier aus sehr gut. Eben war für einen kurzen Moment die Stadt zu sehen. Sie ist wirklich –«
»Ich will Humboldt«, gab sie kurz angebunden zurück. Es war klar, dass die Diskussion damit für sie beendet war. Dann hockte sie sich neben ihn und riss sich ebenfalls ein Stück Brot ab. Max war vorsichtig genug, nicht weiter in sie zu dringen. Er hatte nicht vergessen, wie sie mit ihm umgesprungen war.
»Es tut mir leid, was unten im Tal geschehen ist«, sagte sie. »Ich konnte nicht riskieren, dass wir ihn verlieren. Aber ich gebe zu, dass es Ihnen gegenüber nicht ganz fair war.«
»Nicht ganz fair«, höhnte Max. »Sie haben mich wie einen Gefangenen behandelt. Diesen Ritt quer über dem Sattel werde ich so schnell nicht vergessen. Ich habe geglaubt, mein letztes Stündlein habe geschlagen.«
»Ich erwarte nicht, dass Sie das verstehen. Vermutlich haben Sie nie irgendwelche harten Rückschläge hinnehmen müssen. Als Frau, die sich in einer Männerwelt behaupten muss, ist man anderes gewöhnt, das können Sie mir glauben. Humboldt hat mich einmal ignoriert, doch diesmal wird er mir Beachtung
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