Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser
Glück bringen.«
Auf einmal wurde die Tür aufgestoßen. Zwei Wachen betraten die Halle. In ihrer Mitte ging ein Mann, dessen Haare fettig und strähnig bis hinab zu seinen Schultern reichten. Sein Bart war grau und sein Gesicht müde. Er trug eine abgewetzte Cordjacke, dunkelblaue Baumwollhosen und ein Paar völlig breit getretene Lederschuhe. Als er die vier Abenteurer sah, weiteten sich seine Augen vor Erstaunen. Der Vogelpriester winkte kurz mit der Hand, worauf man ihm umgehend die Fesseln abnahm. Dann ließ man ihn vortreten.
»Harry.« Humboldts Stimme hallte von den Wänden wider. »Harry Boswell.«
Der Mann schüttelte unwillig die Fesseln ab, warf seinen Entführern einen finsteren Blick zu und kam dann langsam auf sie zu. Den Kopf schief gelegt, betrachtete er den Forscher von oben bis unten. »Kenne ich Sie?«
Humboldt lächelte vergnügt. »Sieh mich doch mal genau an. Ist schon eine ganze Weile her. Vor neun Jahren in Kathmandu. Die Expedition. Erinnerst du dich?«
Boswell runzelte die Stirn. Nach einer Weile flüsterte er: »Aber ja.« Seine Lippen bewegten sich kaum. Mit einem Mal fuhr ein Energieschub durch ihn hindurch. »Humboldt!«
Der Forscher legte ihm beide Hände auf die Schultern. »Ist lang her, Harry.«
»Ich glaube es nicht … Was tust du hier? Wie seid ihr hierhergekommen? Ich verstehe nicht …«
Humboldt griff in die Innenseite seiner Jacke und holte die Fotoplatte heraus.
Die metallene Oberfläche glänzte wie Gold im Schein der Fackeln. »Wir sind hier, um dich zu holen, Harry. Du bist frei.«
Der Fotograf streckte zögernd die Hände aus, nahm die Platte und hielt sie ins Licht. Seine Hände begannen zu zittern. Als er sich ihnen zuwandte, konnte Oskar eine Träne in seinem Augenwinkel glitzern sehen.
36
Es dauerte eine ganze Weile, bis Humboldt Harry alles über ihre abenteuerliche Reise erzählt hatte. Der Fotograf war sehr begierig, von Elizas Fähigkeiten zu erfahren, und interessierte sich dafür, wie es ihnen gelungen war, Alvarez auszutricksen. Als Oskar erzählte, wie er die Außenmauer hochgeklettert war, fing er lauthals an zu lachen. »Oh, wie gerne wäre ich dabei gewesen, als dieser schleimige Gouverneur herausbekommen hat, dass ihr ihn um die Passierscheine und sein Geld erleichtert habt! Wunderbar. Ich hoffe, er hat einen Herzinfarkt bekommen. Ihr wisst gar nicht, wie viel mir dieser Blutsauger abgeknöpft hat. Diese Geschichte entschädigt mich etwas.«
Humboldt lächelte. Er wollte gerade dazu ansetzen, Harry von ihrer Konfrontation mit dem Rieseninsekt zu erzählen, als vom Haupteingang her aufgeregte Stimmen zu hören waren. Mehrere Krieger machten sich an der großen Tür zu schaffen. Yupan kam auf sie zugeeilt und verbeugte sich vor ihnen. »Es ist so weit«, tönte es aus dem Linguaphon. »Die Stadt hat sich versammelt, um euch willkommen zu heißen. Wollt ihr mir folgen?«
»Ob wir …?« Humboldt war aufgesprungen. »Aber natürlich. Um nichts in der Welt wollen wir das verpassen. Kommt, meine Freunde. Erzählen können wir später immer noch.«
Der Eingang der großen Halle begann sich langsam zu öffnen. Jeweils drei Wächter stemmten sich links und rechts gegen die Türen und drückten, bis diese mit einem knarrenden Geräusch aufschwenkten.
Tageslicht strömte herein. Es flutete über die Gesichter der Abenteurer, die Seite an Seite dem großen Augenblick entgegenfieberten.
Humboldt warf einen Blick auf seine drei Mitstreiter.
Eliza, seine treue Begleiterin, die ihm schon auf so vielen seiner Reisen zur Seite gestanden hatte, Charlotte, in deren Adern das abenteuerlustige Blut seiner Familie strömte, und natürlich Oskar, der Junge, der ihm viel ähnlicher war, als er selbst es ahnte. Jeder Einzelne von ihnen hatte es verdient, hier zu stehen. Ihrer tatkräftigen Unterstützung war es zu verdanken, dass sie überhaupt so weit gekommen waren. Hatte er vorhin noch über Boswells Tränen geschmunzelt, so fühlte er, wie er in diesem Moment selbst von seinen Gefühlen übermannt wurde.
Yupan trat vor sie, breitete die Arme aus und rief: »Verehrte Besucher, willkommen in Xi’mal!« Mit diesen Worten schritt er hinaus ins Licht.
Humboldt nickte seinen Mitstreitern zu, dann folgte er dem Priester.
Stimmengewirr empfing ihn. Sie waren auf einen weiten Platz getreten, der von einer Menschenmenge gesäumt war. Hunderte Gesichter waren ihm zugewandt. Ernste Gesichter und fröhliche, neugierige und abweisende, manche alt, viele jung.
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