Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser
Bilder, in denen jungen afrikanischen Männern irgendwelche Holzpflöcke durch die Haut getrieben wurden. »Hoffentlich nichts Blutrünstiges.«
»Nein, keine Sorge.« Yupan lächelte. »Die Männer unseres Volkes müssen in der Lage sein, auf den Schwingen des Windes zu gleiten. Sie müssen ihre eigene Flugmaschine bauen und den weiten Weg bis zu den Mysterien von Nazca zurücklegen. Dort vereinen sie sich mit den Göttern, ehe sie wieder zurückkehren und als vollwertige Männer in unserer Gemeinschaft aufgenommen werden.«
»Sich mit den Göttern vereinen?« Das wurde ja immer mysteriöser. Er hätte gern noch mehr über diesen seltsamen Ritus erfahren, als plötzlich neben ihm ein Schrei ertönte.
»Meine Güte, seht euch das an!« Harry Boswell hatte sich über die Bordwand gelehnt und deutete nach unten.
Oskar kniff die Augen zusammen in dem Versuch, etwas zu erkennen. Die gleißende Helligkeit machte die Orientierung schwierig. Die Wüste war zerklüftet und ausgewaschen. Kahle Hügel, über deren erodierte Hänge schon seit ewigen Zeiten kein Tropfen Wasser mehr geflossen war, ragten empor. Man konnte sich keine trostlosere Gegend vorstellen. Und doch war da etwas, was überhaupt nicht ins Bild passen wollte. Etwas, das so fremdartig war, dass man glauben konnte, man befände sich auf einem fernen Planeten. Hatte Yupan nicht die Götter erwähnt? Während er nach unten blickte, begann Oskar zu verstehen, wovon der alte Priester gesprochen hatte.
40
Die Figuren waren unvorstellbar groß. Wie groß, das wurde einem erst bewusst, wenn man die kleinen Luftfahrzeuge betrachtete, die wenige Meter darüber hinwegschwebten. Was Charlotte sah, ließ sie vor Staunen die Luft anhalten. Da unten waren eine Menge Bilder. Menschen, Affen, Wale, Pflanzen und Vögel. Vor allem Vögel. Kolibris, Papageien und Kondore. Alle mehrere Hundert Meter groß. Dazwischen geometrische Motive. Spiralen, Dreiecke oder einfach schnurgerade Linien, die sich kilometerlang durch die Wüste zogen. Die gesamte ausgedörrte Hügellandschaft war übersät mit Bildern. Es sah aus – und diese Erkenntnis traf sie wie ein Blitzschlag – wie die Decke in der Höhle des Wissens. Nur, dass dies hier unendlich viel größer war.
»Willkommen in Nazca, dem Vermächtnis unserer Vorfahren.« In Yupans Stimme schwang Ehrfurcht.
Die drei kleinen Luftfahrzeuge waren inzwischen gelandet und ihre Insassen ausgestiegen.
»Was machen die da?«, fragte Charlotte interessiert.
»Die jungen Männer sorgen dafür, dass die Bildnisse der Götter für die Nachwelt erhalten bleiben. Sie müssen Schäden beseitigen, die Konturen nachzeichnen und die Symbole mit Energie aufladen. Die Zeremonie dauert fünf Tage, dann dürfen sie heimkehren und eine eigene Familie gründen.«
»Fünf Tage in dieser glühenden Wüste? Ganz ohne Wasser?« Ihr fiel es schwer, das zu glauben.
Yupan nickte. »Sie dürfen nur das zu sich nehmen, was sie selbst herbeigeschafft haben: Wasser, Brot, Obst. Es ist eine harte Prüfung. Schon viele sind bei dem Ritual ums Leben gekommen. Ihre Gebeine sind hier überall in der Wüste verstreut. Doch die, die zurückkehren, sind erfüllt von einer mystischen Erfahrung und einem tiefen Verständnis für die Welt.«
»Wie sind diese Bilder ursprünglich entstanden?«, fragte Charlotte und schnappte sich das Fernglas ihres Onkels. »Ich meine, die waren doch nicht immer hier, oder?« Sie presste das Glas an die Augen. »Von hier oben sehen sie aus, als wären sie nur wenige Zentimeter tief.«
»Es könnten Scharrbilder sein«, sagte Humboldt. »Von Menschen in den Boden gezeichnet. Mit Schuhen, mit Schaufeln oder mit Pflügen. Eine unvorstellbare Knochenarbeit.«
»Von Menschen?« Yupans Brauen hob sich um eine Nuance. »Wohl kaum. Seht ihr den Berg dort drüben?« Er deutete nach Norden. Ein riesiges Plateau erhob sich dort aus der Wüste. »Die anderen Hügel ringsherum besitzen allesamt runde Kuppen. Dieser Berg dort ist anders. Seht ihr, wie flach seine Oberseite ist? Auf ihm befinden sich Darstellungen, die unsere Wissenschaftler und Astronomen auf mindestens zweitausend Jahre datieren. Dass er so flach ist, hat keine natürlichen Ursachen. Er ist abgetragen worden, und zwar vor unvorstellbar langer Zeit.«
»Abgetragen?« Dem Forscher war seine Skepsis an der Nasenspitze anzusehen. »Das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Dazu hätte man Kubikkilometer von Erdreich bewegen müssen.«
»Und doch ist es so«, sagte Yupan.
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