Chroniken der Weltensucher 02 - Der Palast des Poseidon
durchgemacht, müssen Sie wissen.«
Während Eliza zur Glasvitrine ging und eine der Karaffen öffnete, warf Oskar dem älteren Griechen einen versteckten Blick zu. Er konnte sehen, wie dessen Hände zitterten. Was mochte dem hartgesottenen Burschen wohl widerfahren sein, dass er derartig mit den Nerven runter war?
»Ich weiß nicht, ob Ihnen mein Name ein Begriff ist«, begann Nikomedes seine Geschichte. »Wir besitzen eine der größten Reedereien Griechenlands. Mein Großvater hat sie aufgebaut. Mein Vater führt derzeit den Vorsitz und ich bin seit zwei Jahren in der Funktion des Juniorchefs tätig. Wir verfügen über fünfzehn Dampfschiffe, wobei zehn pausenlos im Einsatz sind. Unser Einsatzgebiet umfasst hauptsächlich den Peloponnes, das Kretische Meer sowie die Transportroute nach Zypern. Wir sind weniger auf Personenbeförderung als vielmehr auf Frachten spezialisiert. Nahrungsmittel, Holz, Metall, solche Sachen.« Er biss in ein Stück des süßen Blätterteiggebäcks und wischte mit der Serviette über seinen Mund. »Die Route zwischen dem Athener Hafen Piräus und Kreta befindet sich fest in unserer Hand. Leider ist es genau diese Strecke, auf der uns drei Schiffe abhanden gekommen sind. Ein schwerer Schlag für die Reederei.«
»Abhanden gekommen?« Humboldt zog eine Augenbraue hoch. »Eine Geldbörse kann einem abhanden kommen, ein Hut oder ein Stock, aber ein Schiff? Von was für Größenordnungen reden wir hier?«
»Die Kornelia war fünfundvierzig Meter lang und verfügte über rund zweihundert Bruttoregistertonnen«, sagte Nikomedes. »Die Maschine machte bei sechshundert Pferdestärken vierzehn Knoten. Die anderen Schiffe waren sogar noch größer. Ihre Fracht bestand hauptsächlich aus Schienen für eine geplante Eisenbahnstrecke auf Kreta. Unsere Schiffe sind allesamt fahrtüchtig und robust. Selbst ein Sturm, wie wir ihn am Tag des Untergangs hatten, könnte ihnen nichts anhaben.« Er nahm einen Schluck aus dem Wasserglas. »Kapitän Vogiatzis befehligte die Kornelia am Tag ihres Untergangs. Er entkam der Katastrophe nur mit knapper Not. Der Rest der Besatzung versank in den Fluten. Er sagt, ein Seeungeheuer habe ihn angegriffen, eine Behauptung, der weder mein Vater noch mein Großvater Glauben schenken. Sie beschuldigen ihn stattdessen, zu viel getrunken und das Schiff gegen die Klippen gesteuert zu haben.« Er warf seinem Kapitän einen mitfühlenden Blick zu. »Ich kenne Dimitrios Vogiatzis, seit ich ein kleiner Junge war. Er hat mich oft auf seinen Fahrten mitgenommen. Er würde mich niemals anlügen.«
Humboldt blickte nachdenklich zwischen den beiden Männern hin und her, dann stand er auf und ging zum Kartenregal. »Ehe wir uns mit Ungeheuern beschäftigen, wüsste ich gerne, wo das Unglück stattgefunden hat.« Er zog eine aufgerollte Karte aus einem der Fächer, kam zu ihnen zurück und löste die Lederverschlüsse. »Hier haben wir das komplette Kretische Meer bis runter nach Kreta.« Er breitete das Blatt auf dem Tisch aus und strich über den lackierten Druck. Das Papier war an manchen Stellen fadenscheinig und von feinen Rissen durchzogen. Oskar musste sich vorbeugen, um all die kleinen Inseln zu erkennen, die auf dem Meer verstreut lagen. Es sah aus, als habe jemand mit einer Schrotflinte auf ein Blatt Papier geschossen.
»Was für ein Gewimmel!«, staunte er. »Da muss man sich aber gut auskennen, um dort hindurchzufinden.«
»Das sind die Kykladen«, erklärte Nikomedes. »Diese Route wird in der Tat nur von erfahrenen Kapitänen befahren. Überall sind Klippen und Felsen. Manche davon sind mit bloßem Auge kaum zu erkennen.«
»Ist das nicht ziemlich gefährlich, dort hindurchzufahren?«
»Für jemanden, der die Gewässer nicht kennt, ist es lebensgefährlich. Die Ausbildung dauert dementsprechend lange. Wenn man die Gegend kennt, ist es kein Problem mehr. Dann kann man sich an den vielen Inseln orientieren wie an Positionsbojen. Jede von ihnen ist anders geformt. Eine fabelhafte Navigationshilfe.«
»Es sei denn, man fährt bei Nacht.« Humboldt warf dem Reeder einen bedeutungsvollen Blick zu.
Nikomedes nickte. »Normalerweise ist das streng verboten. Doch unsere schwierige Auftragslage hat es nötig gemacht, auch nachts zu navigieren. Wir überlassen diese Aufgabe unseren erfahrensten Kapitänen. Die meisten Inseln verfügen über Leuchtfeuer, die weithin sichtbar sind. Aber Sie haben natürlich recht, es ist riskant.«
»Wo genau hat sich das Unglück denn nun
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