Chroniken der Weltensucher 03 - Der gläserne Fluch
zu lassen, doch sie hat strikt abgelehnt. Sie möchte nicht, dass irgendwelche privaten Details ans Tageslicht kommen. Wenn ihr mich fragt, ich glaube, sie fürchtet sich vor der Wahrheit.«
»Und wie kann ich dabei helfen?« Oskar sah in die eisblauen Augen des Forschers. »Moment mal … Sie wollen, dass ich es stehle?«
»Ich möchte, dass du es ausleihst.« Humboldt lächelte verlegen. »Ich kann es dir nur schwer erklären, aber ich habe ein ganz merkwürdiges Gefühl bei dem Mann. Mein Instinkt sagt mir, dass etwas in Afrika vorgefallen ist. Etwas, von dem wir nicht wissen sollen, was es ist. Bellheim gibt sich größte Mühe, jeden Verdacht bezüglich seiner Person zu zerstreuen. Je mehr er das tut, desto misstrauischer werde ich. Du hättest ihn früher erleben sollen. Er war ein waghalsiger junger Mann, voller unbändiger Energie und Ehrgeiz. Er wusste immer genau, was er wollte und wie er es bekam. Und er hatte Charme. Die Frauen lagen ihm zu Füßen. Dieser Mann dort drüben ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Jemand, der so tut, als wäre er jemand anders.«
Oskar war weit davon entfernt zu verstehen, auf was sein Vater da anspielte, aber er wusste, was von ihm erwartet wurde.
»Na gut«, seufzte er. »Das Tagebuch. Wo soll ich suchen und vor allem wann?«
Humboldt blickte zur Standuhr auf der anderen Seite des Raums. »Es ist jetzt halb zwölf. In einer guten Viertelstunde wird die Kapelle aufhören zu spielen und alle werden nach draußen auf die Straße gehen. Selbst das Dienstpersonal wird das Haus verlassen, um das Feuerwerk zu betrachten. Eine halbe Stunde lang wirst du völlig ungestört sein. Am besten, du durchstöberst zuerst das Schlafzimmer. Dort werden normalerweise die persönlichsten Gegenstände aufbewahrt. Versuch es mit den Nachttischchen und arbeite dich dann durch Vitrinen und Sekretäre. Halte nach einem Buch Ausschau, das alt und abgewetzt wirkt. Wenn es zwei Jahre in Afrika war, dürfte es ziemlich ramponiert sein.«
»Und wenn ich es habe?«
»Mich interessieren nur die letzten Einträge. Sieh nach, ob du irgendetwas zum Thema Meteoriten findest. Nimm dir am besten etwas zu schreiben mit und mach dir Notizen. Hier sind ein Stift und ein Blatt Papier.« Er zog beides aus seiner Weste.
»Was, wenn ich es nicht finde oder erwischt werde?«
»Lass dir etwas einfallen. Du bist doch ein geschickter Dieb. Und jetzt los. Ich werde mir eine passende Entschuldigung für dich einfallen lassen.«
11
Als Oskar den Treppenaufgang betrat, waren draußen bereits die ersten Knallfrösche zu hören. Genau wie von Humboldt vorausgesagt, hatte die Gesellschaft das Haus verlassen und bereitete sich auf den Jahreswechsel vor. Selbst die Mädchen und Hausangestellten waren ins Freie geeilt, um das neue Jahr zusammen mit den Gästen zu begrüßen.
Oskar hatte sich unauffällig hinter einer Standuhr verborgen und eilte nun die Treppe hinauf. Leise wie eine Katze schlich er nach oben. Nicht das geringste Knarren war zu hören.
Oben angekommen sondierte er erst mal die Lage. Vor ihm lag ein Flur, von dem sechs Zimmer abgingen. Er war von gedämpftem Gaslicht erleuchtet und wirkte verlassen. Oskar blieb einen Moment stehen und lauschte angestrengt.
Nein, niemand hier.
Kurz entschlossen wählte er die erste Tür auf der linken Seite und drückte die Klinke. Das Zimmer dahinter lag im Dunkeln. Durch die Fensterscheiben waren bereits die ersten Raketen zu sehen. Die Dächer der gegenüberliegenden Häuser hoben sich scherenschnittartig gegen den Nachthimmel ab. In den Fenstern brannte Licht. Menschen bewegten sich dahinter oder standen an den Balkonen. Oskar ließ seinen Blick durchs Zimmer schweifen. Ein Ankleidezimmer. Ein riesiger Wandschrank, ein Spiegel sowie zwei gepolsterte Stühle nebst Schminktischchen. Nichts, worin man persönliche Unterlagen aufbewahren konnte. Falsches Zimmer. Er wandte sich der nächsten Tür zu. Hier war das Bad. Groß, luxuriös und sauber. Das nächste Zimmer sah interessanter aus. Offensichtlich das Schlafzimmer der Bellheims. Hier gab es definitiv ein paar Möbelstücke, in denen man persönliche Dinge aufbewahren konnte. Oskar schlüpfte hinein und zog die Tür hinter sich zu. Er musste jetzt sehr vorsichtig sein. Wenn er die Leute auf der anderen Seite sehen konnte, so konnten sie ihn auch sehen. Nichts wäre schlimmer, als an einem solchen Abend erwischt zu werden. Mit einem kurzen Blick auf die Häuser der anderen Straßenseite vergewisserte
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