Chroniken der Weltensucher 03 - Der gläserne Fluch
dann weiß, schließlich durchscheinend. Nur wenige Sekunden waren verstrichen und der ganze Mann sah aus, als bestünde er aus Glas.
Ein schreckliches Lachen drang aus seiner Kehle. Ein Lachen, das eindeutig nicht menschlich war.
Dann trat er einen Schritt nach vorn.
Die Spitze des Rapiers drang in seine Brust.
Charlotte wollte den Blick abwenden, doch sie konnte nicht. Ihr Entsetzen war so groß, dass sie einfach hinsehen musste. Die Klinge kam mit einem quietschenden Geräusch aus dem Rücken des Mannes wieder heraus.
Und noch immer lachte er.
»Wer bist du?«, stammelte Humboldt. »Was bist du?«
»Ich werde euch anpassen«, stieß das Wesen glucksend hervor, während es sich zentimeterweise durch die stählerne Klinge vorwärtsarbeitete. »Es wird euch gefallen. Schon bald werden wir alle zusammen singen. Versteht ihr? SIIIN … GEN!« Seine Stimme steigerte sich zu einem hellen, gläsernen Kreischen.
Humboldt stieß einen Fluch aus. In einer Mischung aus Wut und Verzweiflung stemmte er sich nach vorn und drängte den Gegner in Richtung der Fenster. Bellheim, immer noch kichernd und glucksend, hob seine Hände zum Angriff. Charlotte konnte sehen, dass an den Fingerspitzen neue Fühler entstanden, die auf Nase und Ohren des Forschers zu zielen schienen. Humboldt reagierte nicht darauf. Stattdessen schob er mit unverminderter Härte weiter. Mittlerweile waren sie auf der anderen Seite des Raums angekommen. Es gab ein Bersten und Klirren, dann zersprang die Scheibe. Der Forscher legte seine ganze Kraft in den Stoß. Einen wütenden Schrei ausstoßend, drängte er seinen Gegner nach draußen. Doch noch war es nicht vorbei. Bellheim hielt ihn so fest umklammert, dass er mitgerissen wurde. Ineinandergeklammert und verzweifelt miteinander ringend, stürzten die beiden Kontrahenten in den verschneiten Garten. Es gab einen schweren Schlag, dann eilten alle ans Fenster.
Charlotte beugte sich vor und blickte nach unten. Humboldt und Bellheim lagen im Schnee. Der Forscher war angeschlagen. Seine Bewegungen waren müde und langsam. Bellheim hingegen zappelte und kreischte, als stünde er unter Strom. »Kalt!«, schrie er und versuchte aufzustehen, doch Humboldt hielt ihn zurück. Einige der Gäste, die gerade zurück ins Haus drängten, schrien erschrocken auf, als Humboldt und Bellheim zwischen sie stürzten. Erst jetzt bemerkten sie, dass dort ein tödlicher Kampf im Gang war und dass dieser immer noch andauerte.
Atemlos verfolgten die Gäste das zähe Ringen der beiden Gegner. Gertrud Bellheim war die Einzige, die in dem Durcheinander die Nerven behielt. Entschlossen stürmte sie herbei und drang auf die Kontrahenten ein. »Humboldt, Richard, auseinander! Sofort! Was ist nur in euch gefahren? Auseinander mit euch!«
Als Worte nichts halfen, schrie sie: »Ungeheuerlich! Und das am Silvesterabend! Bertram, trennen Sie die Streithähne, aber schnell!«
Der Diener beeilte sich, dem Befehl seiner Herrin nachzukommen, als plötzlich und unerwartet die Kirchenglocken zu läuten anfingen.
In Deutschland war erst seit Kurzem eine einheitliche Zeitrechnung eingeführt worden, daher hatten an diesem Silvesterabend zum ersten Mal alle Kirchenglocken gleichzeitig um Punkt 24 Uhr geläutet. Nur die Schwestern vom Heiligen Blute Jesu in ihrer nahe gelegenen Klosterkirche hatten zunächst im Gebet verharrt und ließen ihre Kirchenglocke erst jetzt das neue Jahr begrüßen. Das Läuten klang, als würde es direkt aus der Nachbarschaft kommen. Laut und dröhnend hallte es zwischen den Hauswänden wider. Die Reaktion war überraschend. Wie von einer ungeheuren Kraft bewegt, flog Humboldt mehrere Meter durch die Luft und landete in einer Schneewehe. Atemlos und am Ende seiner Kräfte blieb er liegen. Bellheim hingegen gebärdete sich, als wäre der Teufel in ihn gefahren. Er presste die Hände auf die Ohren und zappelte und schrie, dass die Anwesenden vorsichtshalber einige Meter zurückwichen. Und dann veränderte er sich. Er schrumpfte, wurde kleiner und löste sich schließlich auf. Immer kleiner wurde er, bis schließlich nichts mehr von ihm übrig war.
Ungläubiges Schweigen breitete sich aus. Niemand hatte eine Erklärung für das, was soeben geschehen war. Humboldt stand auf, klopfte den Schnee von seinem Mantel und trat zu den anderen. Die Anwesenden bildeten einen Kreis um die Kampfzone. Alle schienen zu warteten, dass Bellheim wieder auftauchen möge. Doch nichts geschah. Von dem Völkerkundler fehlte jede Spur. Weder
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