Chroniken der Weltensucher 03 - Der gläserne Fluch
Fuß für Fuß. Die Leiter schaukelte wie wild hin und her. Noch zwei Stufen, dann hatte sie ihr Ziel erreicht. Sie atmete tief durch. Endlich wieder festen Boden unter den Füßen. Sie wusste schon gar nicht mehr, wie sich das anfühlte.
Wenig später traf auch Eliza bei ihnen ein.
»Komisch, was ist denn plötzlich mit dem Wind los?« Humboldt hielt die Nase in die Luft. Es war mit einem Mal sehr ruhig geworden. Das Gras, eben noch flach am Boden liegend, atmete auf und richtete seine Halme in die Höhe. Der Sand rieselte als feiner Staub zur Erde. Eine seltsame Stille lag über der Savanne. Nur die Ankerkette schaukelte sanft klingelnd hin und her.
Humboldt rupfte ein paar vertrocknete Halme und ließ sie fallen. »Merkwürdig«, murmelte er. »Diese Windstille …«
»Was ist denn los?«, fragte Charlotte.
»Ich habe so etwas schon einmal erlebt, in der Wüste Gobi, vor vielen Jahren.«
»Und was ist geschehen?«
»Etwas Schreckliches.« Humboldt zog sein Taschenbarometer heraus. Die Nadel tanzte am unteren Ende der Skala. Er klopfte gegen das Gehäuse und hielt das Instrument ans Ohr. »Ich frage mich …« Er formte seine Hände zu einem Trichter und rief hinauf. »Oskar!«
Der Kopf des Jungen erschien über der Reling. »Ja?«
»Kannst du von da oben irgendetwas Ungewöhnliches sehen?«
»Wonach soll ich Ausschau halten?«
»Irgendeine Veränderung in der Luft. Vorzugsweise aus der Richtung, aus der der Wind gekommen ist.«
»Aber der Wind hat aufgehört.«
»Das weiß ich. Genau das macht mir ja Sorgen. Schau genau hin und gib mir Meldung, wenn du irgendwas siehst.«
»In Ordnung.«
Charlotte runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht …«
In diesem Moment erklang von oben ein Schrei. Oskar deutete nach Osten. »Da … da drüben!«
Alle schauten in die gewiesene Richtung.
»Was ist es?«, rief Humboldt. »Was kannst du sehen?«
»Ich … ich kann es nicht beschreiben. Es ist irgendwie seltsam.«
Charlotte spähte nach Osten. Der Horizont hatte eine merkwürdige Färbung angenommen. Die oberen Luftschichten hatten einen Schieferton, doch darunter wurde es immer dunkler. Dort, wo die Wolken endeten, schimmerte der Himmel in düsteren Farben, die irgendwo zwischen Türkis und Grün lagen. Noch weiter darunter war er fast schwarz.
Sie spitzte die Ohren.
Täuschte sie sich oder lag da ein Dröhnen in der Luft?
»Was ist das?«, flüsterte sie.
Der Forscher kletterte ein paar Meter die Strickleiter empor. Er beschirmte die Augen und starrte konzentriert nach Norden.
Sein Mund war zu einem schmalen Strich geworden. »Beim Jupiter«, flüsterte er. »Das hat uns gerade noch gefehlt.«
Das Unheil raste mit der Geschwindigkeit eines Güterzugs auf sie zu. Zunächst war es nur ein dunkler Strich, doch mittlerweile war er zu einer düsteren Wand angewachsen. Oskar beobachtete das Phänomen mit wachsendem Unbehagen. Es sah aus, als würde eine riesige Walze über das Land rollen und alles Licht verschlucken. Im Inneren der Walze kochte und brodelte es. Blitze zuckten aus ihrer Basis. Ein dumpfes Grollen war zu hören.
»Schnell, runter von dem Schiff!«, rief Humboldt.
»Wieso runter?«, schrie Oskar. »Wir müssen rauf. Kommt hoch, dann können wir vielleicht noch davonfliegen.«
»Keine Zeit!«, rief der Forscher. »Bis wir das Schiff flottgemacht haben, hat uns der Sturm längst erreicht. Wir müssen uns ein Versteck suchen. Beeil dich!«
»Und das Schiff?«
»Vergiss das Schiff. Wir können von Glück sagen, wenn wir mit dem Leben davonkommen. Wir haben es hier mit einem ausgewachsenen Sandsturm zu tun. Schnell, wirf die Rucksäcke über Bord und dann mach, dass du runterkommst!«
Etwas in der Stimme seines Vaters sagte ihm, dass es verdammt ernst war. Er wollte gerade über Bord klettern, als ihm einfiel, was er vergessen hatte.
Wilma!
Er hatte sie schon seit geraumer Zeit nicht mehr gesehen. Vermutlich hatte sie sich wieder an ihren Lieblingsplatz verkrochen – einen abgedunkelten Verschlag links neben dem Steuerrad.
Der Sturm war verdammt nahe. Oskar konnte die dunklen Sandwolken erkennen, wie sie brodelten und kochten. Er rannte in Richtung Achterdeck, dann die Stufen zur Brücke hinauf. Die Nische war leer. Wo steckte der kleine Vogel nur?
»Wilma!«
Sein Ruf klang dünn und kraftlos angesichts des dumpf grollenden Sturms. Er atmete tief ein und schrie aus Leibeskräften: »Wiiilmaaa!«
Gehetzt blickte er umher. Plötzlich sah er etwas. In der Mitte des Decks war
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