Chroniken der Weltensucher 04 - Der Atem des Teufels
grau, aber je nachdem, wie man ihn ins Licht hielt, wechselte seine Farbe zwischen Grün, Blau und Braun. An den Ärmeln, den Knien und den Ellenbogen war das Gewand mit hauchdünnen, irisierenden Chitinplatten besetzt, die von den Ukhu Pacha, den Rieseninsekten der Anden, stammten. Die Schuhe waren weich und biegsam.
Humboldt prüfte das Material. »Na schön«, sagte er. »Wenn du ihn schon dabeihast, kannst du ihn ebenso gut verwenden. Schauen wir mal, wozu du damit in der Lage bist.«
Oskar zog sein Hemd aus und schlüpfte in die hauchdünne Jacke. Dann zog er die Hose hoch und verschnürte sie mit einer Kordel am Hosenbund. Als er den Sitz geprüft hatte, zog er die Schuhe über. Der Stoff fühlte sich glatt und kühl an auf seiner Haut.
»Und, wie sehe ich aus?«
»Das ist wirklich verblüffend«, sagte Humboldt. »Der Stoff besitzt einige sehr merkwürdige optische Eigenschaften. Du scheinst geradezu mit dem Felsen in deinem Rücken zu verschmelzen. Hier, vergiss nicht den Sprechkragen, du wirst ihn brauchen.« Er löste das Linguaphon vom Kragen seines Hemdes und befestigte es an dem Chamäleonanzug.
»Fertig«, sagte er. »Dann mal los. Und viel Glück.«
Oskar zog die Kapuze über den Kopf und machte sich auf den Weg.
36
Eliza sah sich verwundert um. Dampf wirbelte auf, zischte und umhüllte alle Konturen, wodurch neue Formen und Gestalten entstanden. Im schummerigen Licht sah sie, wie sich der Tunnel in der Dunkelheit verlor. Er neigte sich leicht nach unten. Wie ein Gang, der von einem Riesenwurm gegraben worden war. Kurz hinter der Stelle, die Humboldt und Lilienkron als Treffpunkt vereinbart hatten, sank das Deckengewölbe bis auf Bodennähe herab und enthüllte eine Öffnung, die ihren Augen bisher verborgen geblieben war. Was aus der Ferne wie ein schmaler Einschnitt gewirkt hatte, entpuppte sich bei genauerem Hinsehen als ein Schlund, der bis weit in das Felsgestein hineinreichte. Überraschenderweise war er kühl. Angenehm kühl, als käme ein Lufthauch aus dem Tunnel.
Kurz hinter dem Eingang wurde die Höhle breiter. Der Boden war flach und eben. Nebelschleier waberten durch die Luft. An manchen Stellen war das Gestein dunkel – ein Hinweis auf Wasser. Obwohl der Seitenarm im Schatten lag, war es trotzdem nicht finster. Ein grünliches Licht überzog die Höhle und alles, was sich darin befand.
Eliza richtete ihren Blick nach vorne. Vor ihren Augen erhob sich ein Wald turmhoher Pilze. Die meterdicken Kappen schienen regelrecht in Flammen zu stehen. Das grüne Leuchten war hier am stärksten. Es begann am Stamm und breitete sich über die gesamte Unterseite der Schirme aus. Am hellsten schimmerte es an den Lamellen, die wie Fächer geformt waren. Die Stile selbst waren vernarbt und sahen aus wie die Stämme uralter Bäume. Moose und Flechten bedeckten die meterhohen Gebilde und ließen sie wie lebende, atmende Riesen erscheinen. Neben langen Grasbüscheln, die an Bambusstäbe erinnerten, gab es runde, knubbelige Gewächse, die Fußbällen ähnelten, nur dass sie viel größer waren, manche so groß wie Kutschen. Daumendicke Insekten schwirrten zwischen ihnen hin und her und erfüllten die Luft mit ihrem Summen.
Eliza setzte Wilma auf den Boden.
»Was ist das hier für ein Ort?«, flüsterte Charlotte.
»Keine Ahnung.« Lilienkron wirkte wie verzaubert. »Vermutlich ist er durch ein Erdbeben entstanden. Irgendwo muss Wasser eingedrungen sein und hat dann zu dieser reichhaltigen Flora geführt. Sehen Sie sich nur den fruchtbaren Boden an. Er ist vollkommen durchdrungen vom Myzel.« Er trat näher an einen der Stämme heran und legte seine Hand darauf. »Fasst mal an, er ist ganz warm. Ich tippe auf einen Verwandten des Riesenschirmlings Macrolepiota.«
Eliza folgte seinem Vorschlag und roch an ihrer Hand. Es duftete herrlich nach frischen Waldpilzen.
»Und die runden Dinger dort drüben?« Charlotte deutete auf die andere Seite des Tals, wo Dutzende dieser seltsamen mannshohen Bälle herumlagen.
»Es dürfte sich um die Gattung Calvatia handeln«, sagte Lilienkron. »Riesenboviste, wobei sich das ohne genauere Prüfung natürlich nur schwer sagen lässt. Die Öffnung auf der Oberseite ist jedoch ein deutlicher Hinweis. Durch sie bläst der Bovist seine Sporen in die Luft.« Er drehte sich einmal im Kreis. Seine Augen leuchteten vor Entdeckerfreude. »Ist das nicht herrlich? Wir befinden uns zehntausend Meter unter der Erdoberfläche. Was gäbe ich dafür, wenn meine
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