Chroniken der Weltensucher – Das Gesetz des Chronos
Kälte und ein geradezu menschenverachtender Kontrollzwang. Doch in diesem Fall war er derjenige, der kontrolliert wurde, und das war eine völlig neue Erfahrung für ihn.
Die beiden anderen Passanten waren deutlich jünger und kleiner. Der eine ein Bursche von achtzehn Jahren, der seinen linken Arm in einem Verband trug, begleitet von einer jungen Dame mit strohblondem Haar, die in einen hellbraunen Poncho gekleidet war. Sie näherten sich der RoonstraÃe und verlangsamten ihren Schritt.
Der Mann mit dem Schnurrbart hob sein Kinn. »Sie haben mir immer noch nicht gesagt, was Sie eigentlich von mir wollen, Herr von Humboldt. Warum haben Sie mich nicht der Gendarmerie übergeben? Strecker war nur ein Handlanger. Ein Notnagel, falls ich scheitern würde.«
»Ein Bauernopfer, ganz recht«, erwiderte der Forscher. »Ich bin sicher, Sie spielen gut genug Schach, um zu wissen, welchen Sinn diese Aktion hat.«
»Den tatsächlichen Plan zu verschleiern. Den Gegner in Sicherheit zu wiegen und ihn dann an unerwarteter Stelle angreifen.«
»So ist es. Ich weiÃ, dass Sie Freunde und Mitverschwörer in den höchsten Ebenen haben. Es dürfte für Sie ein Leichtes sein, die richtigen Hebel zu betätigen, um morgen wieder als freier Mann durch die StraÃen Berlins zu spazieren.«
»Was schwebt Ihnen stattdessen vor? Kaltblütiger Mord auf einer nebeligen StraÃe? Warum hier? Sie hätten mich auf der Alsenbrücke abstechen und meinen Leichnam in die Spree werfen können.«
Humboldt schüttelte den Kopf. »Sie enttäuschen mich, General von Falkenstein. Das mag Ihre Denkweise sein, meine ist es nicht. Was hätte ich von Ihrem Tod? Einer Hydra einen Kopf abschlagen? Kaum abgeschlagen, wachsen zwei neue nach. Nein, nein. Ein solches Ungetüm erwischt man nicht mit einem einzelnen Schwerthieb. Man muss es mit Stumpf und Stiel erledigen und es von innen heraus zerstören.«
»Sie faseln wirres Zeug, Humboldt.«
»Tue ich das? Und warum sind wir dann wohl hier?« Der Forscher deutete auf das imposante Gebäude auf der gegenüberliegenden StraÃenseite. Der Sitz einer der angesehensten Anwaltskanzleien der Hauptstadt. Um diese Uhrzeit war hier natürlich noch kein Mensch.
»Ein Kanzleigebäude?« Falkenstein runzelte die Stirn. »Was haben Sie vor, wollen Sie mein Geständnis auf Papier festhalten? Das können Sie lange versuchen, ich werde nichts zugeben und nichts unterschreiben. Abgesehen davon sollten wir zwei Stunden später kommen. Um diese Zeit ist noch niemand hier.«
Der Blick des Forschers wurde streng. »Spielen Sie keine Spielchen mit mir, Falkenstein. Sie wissen genau, was das für ein Gebäude ist. Wollen Sie es sich aus der Nähe anschauen? Bitte sehr. Dann gehen wir mal auf die andere StraÃenseite.« Er stieà dem General die Klinge in den Rücken. Es war kein gefährlicher Stich, aber doch schmerzhaft genug, um den Verräter daran zu erinnern, wer hier das Sagen hatte.
»Befriedigen Sie meine Neugier«, sagte Humboldt, während sie die RoonstraÃe überquerten. »Warum haben Sie das Attentat selbst verübt? Warum nicht einen professionellen Killer engagiert? Das wäre doch so viel einfacher und ungefährlicher gewesen. Warum Sie und Strecker und damit das Risiko eingehen, erwischt zu werden und den ganzen Plan auffliegen zu lassen?«
»Das zu erklären hieÃe, einem Blinden die Farbenlehre zu beschreiben. Für mich war es eine Frage der Ehre. Ich liebe das Deutsche Reich. Ich liebe auch den Kaiser. Er ist ein fabelhafter Mensch. Aufrichtig, ehrlich und gütig.«
»So sehr lieben Sie ihn, dass Sie ihn ermorden wollen?« Humboldt runzelte die Stirn. »Das ist mir allerdings zu hoch.«
»Sehen Sie? Ich wusste doch, dass Sie es nicht verstehen. Eben weil ich das Reich liebe und den Kaiser, konnte ich nicht tatenlos mitansehen, wie unsere stolze Nation immer weiter dem Abgrund entgegenschlittert. AuÃenpolitisch von Russland und Frankreich in die Zange genommen, innenpolitisch von den Sozialisten geschwächt, droht sie aufgerieben und geschwächt zu werden. Sie bedarf einer starken Hand. Einer Führung, die fähig ist, auch unangenehme und schmerzhafte Entscheidungen durchzudrücken. Wilhelm ist zu weichherzig. Er ist ein Menschenfreund, möchte bewundert und geliebt werden, doch als Führer taugt er nicht viel. Da bedarf es
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