Chroniken der Weltensucher – Das Gesetz des Chronos
Schatten bringe. He, du da, Junge.« Er deutete auf Maus. »Hilf mir, ihn drüben unter die Bäume zu schaffen. Nimm die Beine, ich halte den Oberkörper. Und ihr anderen, macht bitte eine Gasse frei. Dieser Mann muss aus der Sonne, damit ich ihn behandeln kann. Bitte den Weg freimachen. Hallo, Sie dahinten, würden Sie bitte eine Gasse bilden? Danke.«
Gemeinsam trugen Humboldt und Maus den Attentäter Richtung Osten, wo Charlotte, wie geplant, mit dem Wagen auf sie wartete.
*Â *Â *
Der Mann auf dem Dach hatte Oskar noch nicht bemerkt. Hochkonzentriert, den Körper wie einen Bogen gespannt, kauerte er hinter einer der Statuen, das Gewehr im Anschlag, und wartete auf den entscheidenden Moment. Von unten waren die aufgebrachten Stimmen vieler Menschen zu hören. »Nur ein Knallfrosch«, rief jemand. »Es war ein Feuerwerkskörper, mehr nicht.«
»Prosit Neujahr«, erklang es von anderer Stelle.
»Wo ist der Sekt?«
Erleichtertes Lachen war zu hören. Dann meldete sich eine Stimme, in die viele andere mit einstimmten: »Seine Majestät, er lebe hoch, hoch, hoch!«
»Lang leben der Kaiser und die Kaiserin!«
Klatschen und Jubelrufe schallten von unten herauf.
Oskar sah, wie sich der Finger des Mannes um den Abzug krümmte. Der Abstand zwischen ihm und dem Attentäter betrug vielleicht fünf Meter. Jeden Augenblick konnte der tödliche Schuss fallen. Alles hing jetzt von ihm ab: das Leben des Kaisers und der Kaiserin, das Wohl seiner Familie, genau genommen das Schicksal aller. Alles reduziert auf diesen einen Moment.
Diesmal zögerte er keine Sekunde.
Er atmete tief ein, dann rannte er los. Er hatte keinen Plan und keine Alternative. Er wusste nur, dass er der Einzige war, der das Unausweichliche aufhalten konnte. Also tat er es.
Mit einem wütenden Schrei stürmte er auf den Schützen zu. Der Aufprall erfolgte mit einer Wucht, dass es Oskar von den FüÃen hob. Er stieà den anderen um und flog dann Kopf voran über die Brüstung. Im letzten Moment â dem Augenblick, als seine Finger die rettende Kante zu fassen bekamen â donnerte der Schuss über seinen Kopf hinweg. Mit ohrenbetäubendem Krachen verlieà das Geschoss den Lauf der Waffe und schlug auf der gegenüberliegenden Seite in die Wand. Putz und Mörtel spritzten in alle Richtungen und rieselten auf die Zuschauer nieder. Wieder waren Schreie zu hören.
»Mein Gott, seht nur, da oben.«
»Da hängt ein Mann. Jeden Moment wird er fallen.«
»Da ist noch ein anderer. Er hat ein Gewehr!«
»Ein Schütze. Bringt den Kaiser und die Kaiserin in Sicherheit, schnell!«
»Warum tut denn niemand etwas?«
Oskar bekam nur am Rande mit, was sich unter seinen FüÃen abspielte. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, sich festzuhalten. Die Marmorbrüstung war glatt und seine feuchten Finger bekamen einfach keinen Halt. Das wiederholte Nachfassen war sinnlos, denn er rutschte immer wieder ab.
In diesem Moment tauchte die Gestalt des Attentäters hinter der Brüstung auf. Dunkel wie ein Scherenschnitt zeichnete er sich gegen den blauen Himmel ab. Kalt, entschlossen, das Gewehr in der Hand drohend erhoben.
»Was bist du denn für einer? Wie kannst du es wagen, mich anzugreifen?«
Oskar kniff die Augen zusammen. Der Fremde hatte sein Gesicht hinter einem Tuch verborgen. War das eine Studentenmütze, die er trug?
»Hel⦠helfen Sie mir.« Oskar spürte seine Kräfte schwinden. Nur noch ein paar Augenblicke, dann würde er in die Tiefe stürzen.
»Ich, dir helfen? Dass ich nicht lache.« Der Kerl hob den Gewehrkolben und lieà ihn niedersausen. Oskars Hand schien zu explodieren. GleiÃendes Feuer schoss seinen Arm empor. Er schrie. Noch nie in seinem Leben hatte er solche Schmerzen verspürt. Seine Finger versagten den Dienst. Seine Hand lieà die Kante los und fiel wie leblos an ihm herab. Sein ganzes Gewicht hing jetzt nur noch an einer Hand. Tränen schossen ihm in die Augen, sodass er den Fremden wie durch einen Schleier sah. Der Mund hinter dem Tuch schien zu lächeln. »Na, mein Junge, wie fühlt sich das an?«
Oskar fühlte seinen letzten Moment kommen. Ohnmächtig und blind vor Schmerzen sah er, wie der Fremde mit dem Gewehrkolben zu einem weiteren Schlag ausholte. Wie durch einen Nebel sah er das Unvermeidliche auf sich zukommen. Er hörte die Schreie der Menschen
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