Chroniken der Weltensucher – Das Gesetz des Chronos
ich werde ihnen aufmachen.« Oskar sprang auf, eilte zur Tür und riss sie auf. Während Bert die Kutsche zum Unterstand brachte, kam der Doktor mit seinem Medizinkoffer und eingezogenem Kopf zu ihm herüber.
»Grüà Gott, mein Name ist Delius«, sagte der Arzt mit unverkennbar süddeutschem Akzent. »Ihr junger Kollege sagte mir, es gäbe einen Notfall?«
»Ganz recht. Danke, dass Sie so schnell kommen konnten. Bitte begleiten Sie mich.« Oskar führte den Mediziner ins Wohnzimmer, wo er von Humboldt und den anderen empfangen wurde. Die beiden Männer begrüÃten sich herzlich, dann wandte Delius sich seiner Patientin zu. Er arbeitete schnell und gewissenhaft. Abhören, Puls messen, Atmung feststellen, Augenreflexe testen. Nebenher lieà er sich von Charlotte den Unfallhergang erklären. Sein Ausdruck war ernst. Es dauerte eine ganze Weile, bis er sein Stethoskop beiseite legte.
»Wie lange ist sie jetzt schon in diesem Zustand?« Er wandte sich an Humboldt.
»Eine gute halbe Stunde«, erwiderte der Forscher mit Blick auf seine Taschenuhr.
»Hm.« Delius nickte nachdenklich.
»Und, was meinen Sie? Ist es schlimm?«
»Gefällt mir nicht«, sagte der Arzt. »Es könnte ein Schädel-Hirn-Trauma der Stufe zwei sein, wenn nicht sogar Stufe drei. Sie ist nicht einfach nur bewusstlos, sie liegt im Koma. Keinerlei Augenreflexe oder Schmerzreaktionen, sehen Sie? Diese Frau gehört in ein Krankenhaus. Alles, was ich tun kann, ist, ihre Platzwunde zu nähen. Der Rest entzieht sich meiner Kenntnis.«
»Und wann wird sie wieder aufwachen?«
»Kann ich nicht sagen. Vielleicht binnen der nächsten Stunde, vielleicht erst in einigen Wochen oder Monaten. Ich habe von Komapatienten gelesen, die über ein Jahr in diesem Zustand lagen. Aber wir wollen den Teufel nicht an die Wand malen. Bringen Sie sie am besten in die Charité zu Professor Doktor WeiÃhaupt. Er ist Oberarzt und ein guter Freund von mir. Er ist Spezialist auf dem Gebiet von Hirnverletzungen. Bei ihm ist sie in den besten Händen. Wenn Sie möchten, begleite ich Sie.«
»Das wäre mir sehr recht.«
Delius blickte betroffen auf Eliza hinab. »Die arme Frau. Wie konnte sie nur so unglücklich stürzen?«
»Wenn ich das nur wüsste«, murmelte Humboldt. »Ich werde gleich eine Trage besorgen. Kinder, einer von euch sollte Bert Bescheid sagen, dass er den Landauer startklar macht.«
»Ich übernehme das«, sagte Charlotte. »Ich fühle mich irgendwie mitverantwortlich für das, was passiert ist.«
»Unsinn«, erwiderte der Forscher. »Es war einfach nur ein dummes Unglück, mehr nicht.«
»Bist du da sicher?« Oskar starrte bereits seit einiger Zeit hinaus auf den Flur. Er konnte nicht anders.
»Was meinst du?«
»Da drüben â¦Â« Er deutete hinüber zu der Standuhr, die sich auf halbem Weg zwischen ihnen und der Küche befand.
»Ich verstehe nicht â¦Â«
»Die Uhr, sie ist stehen geblieben. Dabei habe ich sie heute Morgen noch aufgezogen.«
»Vielleicht durch die Erschütterung bei dem Sturz«, sagte Charlotte. »Der ganze Boden hat gewackelt.«
»Ja, aber seht euch das Zifferblatt an.« Oskar deutete auf die römischen Ziffern. Ein eiskalter Schauer rann ihm über den Rücken. Er konnte nicht glauben, dass das ein Zufall war. Die Zeiger standen genau auf der Uhrzeit, die in Humboldts Bericht als Todeszeit angegeben war.
Zehn Minuten nach neun.
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N och immer war Elizas Zustand unverändert. Täglich verbrachten die Freunde mehrere Stunden an ihrem Krankenbett, manchmal zusammen, manchmal allein. Humboldt war fast immer anwesend. Nur seine Arbeit und sein Bedürfnis nach Nachtruhe konnten ihn von seiner Gefährtin trennen, und selbst das nur für kurze Zeit.
Eliza selbst sah aus, als würde sie schlafen. Die Bandagen um ihren Kopf waren inzwischen entfernt und ihre Platzwunde mit ein paar Stichen genäht worden. Ein kleines Pflaster auf der Stirn, das war alles, was von ihrem Sturz übrig geblieben war, sah man von ihrer tiefen Bewusstlosigkeit ab, auf die sich keiner â nicht mal der Chefarzt der Hirnchirurgie â einen Reim machen konnte. Eigentlich dürfte der Sturz nicht hart genug gewesen sein, um ein solches Trauma auszulösen, sagte er, musste aber gleichzeitig zugeben, dass die Forschung am menschlichen Gehirn zu
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