Chroniken der Weltensucher – Das Gesetz des Chronos
um sicherzugehen, versteht sich.« Er versuchte zu lächeln, doch Oskar wusste es besser. Sein Vater tat immer so, als würde er über den Dingen stehen, doch wer ihn kannte, merkte ihm an, dass er genauso nervös war wie alle anderen.
Drüben von der Nazarethkirche in Wedding schlug es neun.
Noch zehn Minuten.
Gemeinsam eilten sie über den Hof und schlugen eine Ostrichtung ein. Sie verlieÃen die StraÃe und betraten das Unterholz, das an dieser Stelle zum Glück nicht besonders dicht war. Eine kleine Anhöhe erklimmend, durchquerten sie einen Buchenhain und kamen zu einer Ansammlung alter Eichen, die beieinanderstanden, als würden sie Geheimnisse austauschen. Humboldt blieb kurz stehen, vergewisserte sich, dass sie auch wirklich richtig waren, und ging dann ein paar Schritte nach rechts. Er legte die Hand an einen Baum und blickte nach oben.
»Hier muss es sein. Das ist der Baum, den ich beschrieben habe. Mehrere Verdickungen im Hauptstamm, stand da zu lesen. Ziemlich markant, siehst du?« Er deutete hinauf.
Oskar betrachtete die Knorren und nickte. Manche von ihnen sahen aus wie Köpfe mit Gesichtern darauf.
»Scheint niemand hier zu sein«, sagte er mit einem Blick in die Runde. »Was machen wir jetzt?«
»Warten und uns auf eine zweite Tasse Kaffee freuen, wenn wir wieder zurückkehren«, sagte sein Vater.
Oskar trat etwas näher an den Stamm, in der Hoffnung, ein trockenes Plätzchen zu finden. »Von hier aus hat man einen ziemlich guten Blick auf den Hof«, überlegte er. »Freies Schussfeld bis rüber zum Stall. Trotzdem eine ganz schöne Entfernung.«
»Behringer ist ein guter Schütze, vergiss das nicht. Und er hatte ein Zielfernrohr. Aber du hast recht. Mal auÃen vor gelassen, dass es ein heimtückischer und niederträchtiger Anschlag ist, war es eine gute Leistung. Zumal jetzt auch noch Wind aufkommt.«
Die Zweige schlugen gegeneinander und Tropfen prasselten auf sie herab. Oskar blickte missmutig hinauf. Er hoffte, dass die letzten zehn Minuten bald herum waren und sie endlich zurückkehren konnten.
46
C harlotte, siehst du bitte mal nach, ob noch Kaffee in der Dose ist? Ich meine, der müsste mal wieder nachgefüllt werden.« Eliza stand auf einer Trittleiter hinten in der Speisekammer und sortierte das Lebensmittelregal. Das tat sie immer, ehe der nächste gröÃere Einkauf anstand. Sie war die Einzige, die einen Ãberblick über ihre Bestände hatte.
»Einen Moment, ich schau kurz nach.« Charlotte verlieà die Speisekammer, ging hinüber zur Anrichte am Küchenfenster und suchte nach der richtigen Dose. Eliza hatte ein System von unterschiedlich groÃen und farbig bedruckten Behältern angelegt, in denen sie Gewürze, Tees, Kaffee und Mehl aufzubewahren pflegte. Leider trugen sie keine Beschriftung, sodass Charlotte einige Dosen öffnen musste, bis sie die richtige fand.
»Nur noch ein knappes Drittel«, rief sie nach hinten. »Besser, wir kaufen ein frisches Kilo.«
»Gut, dann werde ich mir das gleich notieren. Und wie sieht es mit dem Tee aus?«
Charlotte griff nach der Dose, in der sie den Tee vermutete, und fand Elizas Verdacht bestätigt. »Wir sollten bei der Gelegenheit auch gleich den Earl Grey nachkaufen«, rief sie nach hinten. »Da ist kaum noch etwas drin. Keine Ahnung, wo der schon wieder geblieben ist, aber setz ihn lieber auch auf die Liste.«
Sie lauschte. »Hast du gehört, Eliza? Wir brauchen Tee.«
Keine Antwort.
Charlotte wollte schon nach hinten gehen, als ein furchtbares Krachen ertönte. Der Boden vibrierte. Es klang, als wäre ein Teil des Hauses zusammengestürzt.
Charlotte rang einen Moment lang um ihre Fassung, dann stürzte sie durch die Küche in Richtung Speisekammer. »Eliza, warst du das? Eliza, sag doch etwas.«
Was sie sah, lieà sie vor Schreck einen Schrei ausstoÃen.
Eliza lag auf dem harten Steinboden, umgeben von Dosen, Päckchen, Flaschen und Papiertüten. Die Trittleiter war seitlich weggekippt und hatte dabei drei vollbeladene Regalböden mitgerissen.
Charlotte kletterte über die zerschmetterten Holzplanken und eilte ihrer Freundin zu Hilfe. Eliza lag mit dem Bauch auf der Erde, das Gesicht zur Seite gedreht, ihre Augen weit aufgerissen. Blut sickerte aus einer Wunde an der Stirn.
»Oh mein Gott, Eliza. Kannst du mich hören? Sag doch etwas.«
Keine Reaktion.
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