Chroniken der Weltensucher – Das Gesetz des Chronos
Eliza von der Leiter stürzte. Ich habe die Standuhr im Flur noch einmal geprüft. Sie war voll aufgezogen und wies keinerlei mechanische Schäden auf. Einzig diese Empfindlichkeit bei schweren StöÃen war festzustellen, aber das Problem hatten wir schon früher, wie ihr wisst. Wir dürfen also davon ausgehen, dass sie just zu dem Zeitpunkt ihren Dienst versagte, als Elizas Sturz den Boden erzittern lieÃ. Die Vibration reichte aus, um das empfindliche Zählwerk anzuhalten.« Er atmete aus und deutete auf die zweite vertikale Linie. »Spätestens hier muss jeder logisch denkende Mensch stutzig werden. Ist es möglich, dass es eine Verknüpfung zwischen den vier Ereignissen gibt?«
Oskar starrte auf das Blatt, in der Hoffnung, die Dinge so zu sehen wie sein Vater. Allein, für ihn sah es immer noch aus wie ein Zufall.
Auch Charlotte schien nicht überzeugt, was ihn tröstete. Wenn jemand mit Logik gesegnet war, dann Charlotte.
»Na schön«, sagte sie vorsichtig. »Sagen wir mal, es gäbe da wirklich ein Gesetz â wie würde es denn lauten?«
Humboldt richtete sich auf. »Dass jedes Ereignis Spuren im Raum-Zeit-Kontinuum hinterlässt. Eine Art Echo auf einem der unendlich vielen und parallel verlaufenden Zeitstrahlen. Und zwar umso stärker, je dichter die Zeitstrahlen beieinanderliegen und je heftiger das Ereignis ist. Seht her: Da wir nur ein singuläres Ereignis, nämlich die Ermordung des Kaisers, verändert haben, liegen die Strahlen sehr dicht beieinander. Wir haben zwei Menschen das Leben gerettet. Das ist â gemessen an der Geschichte der Menschheit â ein minimaler Eingriff. Hätten wir mehr verändert, wäre das Echo wahrscheinlich viel deutlicher ausgefallen. Ich gebe zu, auch ich war anfangs skeptisch. Ich sah die Parallelen, konnte aber noch nicht recht an eine GesetzmäÃigkeit glauben, genau wie ihr. Doch dann fand ich das hier.« Er zog einen Umschlag zwischen seinen Unterlagen hervor und hielt ihn hoch. »Ein Brief von Eliza. Ein Abschiedsbrief. Was sie darin schreibt, deckt sich so hundertprozentig mit meiner Theorie, dass ich nicht mehr an einen Zufall glauben kann. Das Gesetz des Chronos ist real und es wird uns in Zukunft einigen Kummer bereiten.«
»Was schreibt sie denn?«, fragte Charlotte.
»Lies selbst.« Er reichte ihn Charlotte. »Am besten laut.«
Charlotte öffnete die Lasche und zog das Papier heraus. Es war nur ein einzelnes Blatt, das auf der Vorder- und Rückseite beschrieben war. Die schnörkelige und an manchen Stellen etwas unbeholfen wirkende Schrift stammte tatsächlich von Eliza. Sie war auch die Einzige, die diese spezielle dunkelrote Tinte verwendete. Als Charlotte das Blatt auseinanderfaltete, entströmte ihm der Geruch nach Minze und Myrrhe.
»Mein Geliebter,
wenn du das hier liest, werde ich nicht mehr bei euch sein. Frag mich nicht nach dem Warum und Wieso. Das können nur die Götter beantworten. Alles, was ich dir sagen kann, ist, dass es meine Bestimmung war, dich zu begleiten, genauso wie es meine Bestimmung ist, dich wieder zu verlassen. Damballah hat mir den Weg gewiesen und als seine Priesterin muss ich ihm folgen.
Du wirst dich erinnern, dass mir einst Wege offenstanden, um in die Herzen der Menschen zu blicken. Zukunft und Vergangenheit waren kein Geheimnis für mich, ich konnte in ihnen lesen wie in einem offenen Buch. Nicht immer war mir bewusst, was ich da sah, und nicht immer konnte ich meine Fähigkeit steuern. Aber es war eine Gabe, die ich von Geburt an besaà und die uns bei vielen unserer Abenteuer von Nutzen war. Ich habe diese Fähigkeit verloren. Sie wurde mir gegeben und auch wieder genommen. An seine Stelle trat etwas anderes. Eine Gabe, die in meinem Kulturkreis als der âºSchwarze Spiegelâ¹ bekannt ist. Er tritt immer dann auf, wenn ein Zyklus endet und ein anderer beginnt. Ein Symbol für den Wandel der Zeiten. Anstatt in der Zeit vor und zurück zu blicken, vermochte ich auf einmal seitwärts zu schauen. Ich sah etwas, wie man es manchmal auf Jahrmärkten sieht, wenn man zwischen zwei Spiegeln steht. Eine endlose Kette immer gleicher Bilder, die tiefer und tiefer reichen, bis sie irgendwann verblassen. Doch in meinem Fall zeigte der Schwarze Spiegel Szenen, die nicht immer gleich waren, sondern sich geringfügig voneinander unterschieden. Mal trug ich Hose und Weste, mal ein dunkles Kleid. Mal
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