Chroniken der Weltensucher – Das Gesetz des Chronos
wenig fortgeschritten sei, um alle Antworten zu kennen.
Humboldt hingegen hatte eine andere Theorie.
Oskar erfuhr davon, als er an diesem Mittwoch zusammen mit Charlotte in der Charité eintraf.
Es war ein herrlicher Morgen. Die Fenster standen offen und ein warmer Wind wehte ins Zimmer. Die Vögel zwitscherten und allenthalben summten Bienen und Hummeln um die Rosen, die sich auÃen an der Fassade entlangrankten.
Humboldt saà neben Elizas Bett, neben sich eine Zeitung, vor sich ein weiÃes Papier, auf dem etliche Diagramme und Formeln zu sehen waren.
Er sah furchtbar aus, fand Oskar. Unrasiert und mit dunklen Ringen unter den Augen. Aber das würde er natürlich niemals sagen. Humboldt bemerkte ihr Erscheinen erst, als sie schon im Zimmer standen.
»Oh, hallo«, sagte er. »Kommt doch rein. Ich räume euch schnell die Stühle frei.«
Der Forscher hatte alle Sitzflächen mit Büchern, Berechnungen, Skizzen und anderen Dokumenten bedeckt und es dauerte eine Weile, bis sie sich setzen konnten. Oskar nahm Wilma aus seiner Tasche, stellte sie auf den Boden und lieà sie die Ecken und Winkel durchstöbern.
»Ich dachte, wenn ich hier schon warte, kann ich nebenher auch ein bisschen arbeiten«, sagte er mit einem entschuldigenden Lächeln. »Ihr wisst ja, wie unausstehlich ich werden kann, wenn ich nichts zu tun habe.«
»Seit wann bist du denn hier?«, fragte Charlotte.
»Seit gestern Nachmittag.«
»Du hast die Nacht hier verbracht?«
»Ich ⦠äh, ja. Hatte gar nicht bemerkt, dass die Sonne schon aufgegangen war, bis die Schwester hereinkam, um die Infusion zu wechseln.«
»Wie geht es Eliza?«
»Unverändert. Professor WeiÃhaupt wird nachher vorbeischauen und sie sich noch einmal ansehen.«
»Hast du überhaupt nicht geschlafen?«, fragte Oskar.
»Nicht sehr lang und auch nicht sehr bequem.« Humboldt deutete auf den Sessel in der Ecke. »Ihr wisst ja, ich brauche nicht viel Schlaf. AuÃerdem bin ich da einer Sache auf der Spur ⦠kommt her, nehmt Platz, ich zeigâs euch.« Er griff nach einem Blatt Papier und fing an, mehrere horizontale Linien zu zeichnen. »Es hat etwas mit dem zu tun, was ich als Gesetz des Chronos bezeichne.«
»Von einem solchen Gesetz habe ich noch nie gehört«, sagte Charlotte.
»Weil es bisher auch noch niemand entdeckt hat, deshalb«, sagte Humboldt. Oskar neigte den Kopf, um zu sehen, was sein Vater da zeichnete. »Wer oder was ist Chronos?«, fragte er.
»Chronos ist ein Gott«, sagte Humboldt. »Genau genommen der Gott der Zeit aus der griechischen Mythologie. Geboren aus dunklem Chaos, schuf er das silberne Welten-Ei, aus dem wiederum der Sonnengott Helios entsprang. In manchen Dokumenten wird Chronos mit dem Titanen Kronos gleichgesetzt, dem Vater des Zeus. Die älteste bekannte Darstellung ist ein hellenistisches Relief, das Chronos als bartlose Gestalt mit groÃen Flügeln zeigt. Doch seit Mitte des vierzehnten Jahrhunderts sieht man ihn auch öfter als bärtigen Greis mit Sichel und Stundenglas. Ich habe hier eine Abbildung in einem meiner Bücher gefunden.« Er drehte das Buch, sodass sie das Bild sehen konnten.
»Der Herr über Vergänglichkeit und Tod«, murmelte Charlotte.
»Den wir besiegt zu haben glaubten«, ergänzte Humboldt mit traurigem Blick.
»Glaubten?« Oskar runzelte die Stirn. »Wir haben ihn doch besiegt. Wir haben die Geschichte verändert.«
Um Humboldts Mund spielte ein kleines Lächeln, das aber ebenso schnell verschwand, wie es gekommen war. »Wir haben einen Teilerfolg errungen, das stimmt. Aber ob es uns gelungen ist, die Geschichte dauerhaft zu verändern, das wird sich erst noch zeigen.«
»Du sprichst in Rätseln.«
»Tue ich das?« Der Forscher klappte das Buch wieder zu. »Nun, vielleicht hast du recht. Vielleicht macht sich doch langsam die Müdigkeit in mir breit. Ich werde nachher fragen, ob sie mir ein Feldbett ins Zimmer stellen, damit ich ein wenig die FüÃe hochlegen kann. Doch zuerst will ich euch zeigen, was ich glaube, entdeckt zu haben.« Er tippte auf das Papier.
»Das hier ist der Zeitstrahl, auf dem wir uns ursprünglich bewegt haben. Der Zeitstrahl, auf dem zuerst der Kaiser und die Kaiserin, später dann Eliza ermordet wurden.« Er markierte die Linie an den entsprechenden Stellen. »Danach überschlugen sich
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