Chroniken der Weltensucher – Das Gesetz des Chronos
seiner Erbauung gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts war das Stadtschloss die Hauptresidenz der Kurfürsten von Brandenburg, der Könige von PreuÃen sowie der Deutschen Kaiser gewesen.
Verglichen mit der Prachtallee Unter den Linden , die von unzähligen Passanten und Droschken bevölkert wurde, wirkte der Schlossplatz kahl und leer gefegt. An der Zufahrt zum Schloss waren StraÃensperren aufgestellt worden und eintreffende Kutschen wurden gewissenhaft kontrolliert. Oskar konnte sehen, dass die Flaggen auf Halbmast wehten. Ãberall im Land herrschte Staatstrauer.
»Wir sind da«, sagte Striebel. »Bitte halten Sie Ihre Ausweispapiere bereit.«
Man unterzog sie einer genauen Kontrolle, doch es schien keine Probleme zu geben. Anstandslos durften sie passieren.
Nach der Kontrolle durchquerten sie die Sperre und rollten auf das beeindruckende Gebäude zu. Ãberall schimmerten Bajonette, Pickelhauben und blank polierte Stiefel. Bereits in der Stadt waren Oskar die vielen Polizisten und Soldaten aufgefallen. Alle wichtigen Kreuzungen waren abgeriegelt worden, Patrouillen kontrollierten die ZufahrtsstraÃen. Humboldt hatte keinesfalls übertrieben. Es sah tatsächlich so aus, als stünde dem Land ein Bürgerkrieg bevor.
Vor dem Eingang hielten sie an. Vogel und Striebel stiegen aus dem Sattel und öffneten ihnen die Kutschentür.
An der Tür wurden ihre Ausweise erneut kontrolliert. Der Wachposten machte nicht den Eindruck, als sei mit ihm gut Kirschen essen. Doch die Dokumente waren ja in Ordnung, und als Vogel dem Mann etwas ins Ohr flüsterte, gab er den Weg frei. Ein Bote kam und schwirrte dann gleich wieder ab, um Stangelmeier die Ankunft seiner Gäste zu melden.
Während sie warteten, sah Oskar sich um. Hier ging es zu wie in einem Bienenstock. Beamte und Staatsdiener wuselten herum, Schuhe klapperten über den Marmor und Akten wurden transportiert.
»Da drüben winkt jemand. Ich glaube, er meint uns.« Charlotte deutete auf die breite Marmortreppe, die vom ersten Stock herabführte.
»Gut, dann wollen wir mal«, sagte Humboldt. »Haltet euch hinter mir und antwortet nur, wenn ihr gefragt werdet, verstanden?«
Der Mann war klein, trug einen grauen Anzug und war, bis auf einen schmalen Kranz um die Ohren und den Hinterkopf, recht haarlos. Eine goldumrandete Brille saà so weit vorne auf seiner Nasenspitze, dass Oskar Angst hatte, sie könne jeden Moment herunterfallen.
»Herr von Humboldt?«
Der Forscher nickte. »Zu Ihren Diensten. Dies sind meine Nichte und mein Sohn. Ich hatte sie gebeten, mich zu begleiten.«
Der Mann räusperte sich. »Mein Name ist Ferdinand Glockenschmied. Ich bin der Sekretär von Herrn Stangelmeier. Wir freuen uns, dass Sie unserer Einladung so schnell gefolgt sind.«
Einladung war gut, dachte Oskar. Befehl traf es eher.
»Leider sieht sich Herr Stangelmeier auÃerstande, Sie persönlich abzuholen. Er ist nicht mehr der Jüngste. Das Treppensteigen bereitet ihm Unbehagen. AuÃerdem sehen Sie ja, wie es hier zugeht. Die Ermordung unseres geliebten Kaisers hat ein Riesenchaos verursacht. Wir stehen vor einem Scherbenhaufen, abgesehen natürlich von dem persönlichen Verlust. Wilhelm war ein so gütiger Mensch. Humorvoll, intelligent und weltoffen. Ich kann mir nicht vorstellen, wer ein Interesse daran haben könnte, sein Leben auszulöschen.« Er räusperte sich. »Aber wir wollen Herrn Stangelmeier nicht warten lassen. Bitte folgen Sie mir.«
Er wandte sich um und führte sie in den ersten Stock. Von dort ging es über eine breite Treppe hinauf in den zweiten. Sie kamen an einer riesigen doppelflügeligen Tür vorbei und steuerten auf ein Zimmer am Ende des Korridors zu.
»Hinter diesen Türen liegen die Empfangsräume Seiner Majestät«, sagte er. »Hier empfing der Kaiser ausländische Gäste, Diplomaten und Staatsoberhäupter. Herrn Stangelmeiers Arbeitszimmer liegt am Ende dieses Korridors. Bitte warten Sie hier, ich werde Sie ankündigen.«
Noch einmal mussten sie warten. Oskar nutzte die Gelegenheit, um aus dem Fenster zu schauen. Er hatte das Gefühl, dass die Zahl der Soldaten, die drauÃen auf dem Vorplatz patrouillierten, immer gröÃer wurde. Jenseits der Spree sah er das Brandenburger Tor und die Reichstagskuppel. Links verdunkelten Rauchschwaden den nachmittäglichen Himmel und gaben ihm eine unangenehme
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