Chroniken der Weltensucher – Das Gesetz des Chronos
Stadtzentrum. Die Geheimdienstler Vogel und Striebel ritten neben ihnen her, hinter ihnen sechs weitere Reiter mit geschulterten Gewehren. Oskar konnte trotz ihrer Zivilkleidung erkennen, dass sie eine militärische Ausbildung genossen hatten. Nur Offiziere saÃen derart steif und aufrecht im Sattel. Um sich die Zeit zu vertreiben, versuchte er Blickkontakt mit ihnen aufzunehmen, doch die Kerle schauten einfach nur stur geradeaus.
»Was weiÃt du über diesen Stangelmeier?«, fragte Charlotte ihren Onkel vorne auf dem Kutschbock. »Was ist das für ein Mann und warum will er dich sprechen?«
Humboldt trug wie immer seinen langen schwarzen Mantel, seine schwarzen Stiefel und seinen Ausgehzylinder. So hatte Oskar ihn damals kennengelernt und es jagte ihm immer noch einen Schauer über den Rücken, wenn er daran zurückdachte.
»Um mal mit Frage Nummer zwei anzufangen, da tappe ich genauso im Dunkeln wie du. Ich könnte mir vorstellen, dass es irgendetwas mit dem Artikel in der Zeitung zu tun hat. Aber wie gesagt, ist reine Spekulation. Was deine andere Frage betrifft ⦠Oberregierungsrat Stangelmeier war früher Gymnasiallehrer. Nachdem er einige Jahre unterrichtet hatte, wurde er zum Erzieher von Prinz Wilhelm von PreuÃen einberufen.«
»Das heiÃt, er muss heute fast siebzig Jahre alt sein«, sagte Oskar. »Reichlich alt, um immer noch an der Seite des Kaisers zu leben, oder?«
»Die beiden hatten eine besondere Beziehung«, sagte Humboldt. »Wisst ihr, früher war es so üblich, dass Prinzen einen militärischen Erzieher zugeteilt bekamen. Wilhelms Mutter, Prinzessin Viktoria, bestand auf einen Zivilisten an der Seite ihres Sohnes. Aber mit Stangelmeier holte sie sich jemanden an den Hof, der strenger und härter war als jeder Militärerzieher. Ihr wisst vermutlich, dass Wilhelm seit seiner Geburt an körperlichen Gebrechen litt. Er kam als SteiÃgeburt zur Welt und überlebte nur mit knapper Not. Durch den Einsatz einer Geburtszange wurde sein linker Arm so stark in die Länge gezogen, dass es zu einer Lähmung kam. Die Folgen waren eine verzögerte Entwicklung und eine eingeschränkte Beweglichkeit. Er trägt links immer einen Handschuh, ist euch das schon einmal aufgefallen? Wie dem auch sei, Königin Viktoria empfand es als persönliches Versagen, einen körperlich beeinträchtigten Thronfolger zur Welt gebracht zu haben, und setzte alles daran, diesen Makel auszugleichen.«
»Was hat sie getan?«
»Nun, zum Beispiel verordnete sie ihm Kuren, bei denen der kranke Arm in ein frisch geschlachtetes Kaninchen eingenäht wurde.«
Charlotte verzog das Gesicht. »Nicht dein Ernst.«
»Oh doch, und das ist noch nicht alles. Wilhelm wurde fortwährenden Torturen ausgesetzt, um seine Behinderung zu lindern. Massagen, Elektroschocks, Armschienen, Klammern, das Tragen orthopädischer Schuhe. Am schlimmsten war ein Korsett aus Stangen, Schienen und Gurten, das die Nackenmuskulatur strecken sollte.«
»Der arme Mann.«
Humboldt nickte. »Wohl wahr. Wilhelm erwies sich jedoch als erstaunlich hartnäckig. Er überwand alle Handicaps, lernte ein Gewehr zu halten, zu segeln, zu rudern, ja sogar Tennis zu spielen. Nur mit dem Reiten hatte er es nicht so. Das Auf- und Absteigen, die aufrechte Sitzposition und das Halten der Zügel bereiteten ihm gehörige Qualen.«
»Und Stangelmeier?«
»Sowohl Wilhelm als auch sein Bruder Heinrich wurden von Stangelmeier in calvinistischer Tradition erzogen. Ich meine mich zu erinnern, dass Wilhelm ihn irgendwo mal als freudlos, pedantisch und herb beschrieben hat. Trotzdem hat er sich nie von ihm getrennt. Nach dem Regierungsantritt Wilhelms wurde Stangelmeier Berater und danach Oberregierungsrat. Er ist einer der mächtigsten Männer des Reiches. Wie ich gehört habe, ist er einer der Mitglieder der neu gegründeten Militärregierung.«
»Na, prost Mahlzeit«, sagte Oskar. »Abendessen im Schloss können wir dann wohl vergessen, oder?«
5
D as Stadtschloss lag auf der Spreeinsel, nur einen Steinwurf vom Berliner Dom entfernt. Ein dreistöckiger Prachtbau, über dessen Hauptportal eine mit Grünspan überzogene Rundkuppel aufragte. Der Eingang selbst war dreigeteilt, mit einem hohen Rundbogen in der Mitte und zwei kleineren rechts und links. Säulen mit dorischen Kapitellen verzierten die AuÃenfassade. Seit
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