Chroniken der Weltensucher – Das Gesetz des Chronos
er. »15.  April 1918. Oder hier: 20.  September 2015. Oskar, ist dir eigentlich klar, was du da mitgebracht hast? Das ist quasi die Geschichte unserer Zukunft.«
Er senkte den Blick. Eine Weile starrte er auf den Boden, dann stand er auf.
»Hört zu«, sagte er, »ich möchte, dass ihr mich rüber in meine Studierstube begleitet. Am besten, ihr holt euch alle noch eine Tasse Kakao. Ich muss euch nämlich etwas Wichtiges mitteilen.«
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D er Forscher stand schweigend vorne an der Tafel, die Arme verschränkt, die Stirn in Falten gelegt. Charlotte setzte sich neben die anderen und wartete. Trotz der späten Stunde war sie kein bisschen müde.
Endlich fing der Forscher an zu sprechen. Seine Stimme klang, als stünde er unter groÃem Druck.
»Meine lieben Freunde, zunächst einmal möchte ich sagen, wie froh ich bin, dass Oskar heil aus seinem Zukunftsabenteuer zurückgekommen ist. Ihr wisst, dass ich Reisen in die Zukunft immer streng untersagt habe, weil das Risiko einfach unverantwortbar ist. Dennoch muss ich euch gestehen, dass ich selbst vor einigen Tagen bereits eine Reise in die Zukunft unternommen habe.«
Charlottes Lächeln schwand. »Du hast was ?«
»Bitte glaubt mir, ich hatte Gründe, warum ich so gehandelt habe.« Er strich mit den Fingerspitzen über die Tischkante. »Ihr erinnert euch vielleicht an Wilmas erste Reise. Es lieà mir damals keine Ruhe, was unserer kleinen Freundin widerfahren war, und ich nahm mir einige Tage Zeit, um die Aufnahmen, die Wilma hinterlassen hatte, auszuwerten. Leider waren die Aufzeichnungen lückenhaft. Das Linguaphon war durch starke Nebengeräusche empfindlich gestört worden, sodass ich Wilmas Stimme nur zum Teil verstehen konnte. Die Analyse der AuÃenhülle warf mehr Fragen auf, als sie beantwortete, und so sah ich mich gezwungen, den Zeitgeber auf das Jahr 1915 zu stellen und die Reise selbst anzutreten.« Sein Gesichtsausdruck wurde ernst. »Da Wilma ja auch heil aus dieser Zeit zurückgekommen war, hielt ich das Risiko für überschaubar. Aber was zunächst nur ein düsterer Verdacht gewesen war, entpuppte sich als grausame Realität. Ich landete in einem Landstrich, der mit dem, wie wir ihn kennen, nicht mehr viel Ãhnlichkeit hatte. Das Gebiet von hier, über Tegel, Falkensee und Wustermark war total verwüstet. Kein Baum, kein Strauch, von Häusern, Brücken oder Kirchen ganz zu schweigen. Eine wilde, karge Landschaft, übersät von Kratern und Trichtern, aus denen gelblicher Dampf hervorquoll. Der Gestank war unerträglich. Ich habe so etwas noch nie gerochen. Die Dämpfe griffen meine Lungen an, aber ich harrte noch ein bisschen länger aus, um herauszufinden, was geschehen war. Ganz offensichtlich herrschte Krieg. In der Ferne waren Brände und Rauchsäulen zu erkennen. Ich drehte mich um, um zu sehen, was aus der Stadt geworden war. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie erleichtert ich war, als ich die Kuppel des Reichstags, die Kirchtürme und Dachgiebel sah. Die Stadt stand also noch. Allerdings war um sie herum eine Mauer errichtet worden. Ein Bauwerk von mindestens fünf Meter Höhe, das den Stadtkern wie eine mittelalterliche Festungsmauer umgab. Kanonen dröhnten. Mächtige Geschütze waren nach auÃen gerichtet und entluden sich donnernd in den orangefarbenen Himmel. Sie spuckten Tod und Verwüstung. DrauÃen auf der Ebene kämpften Kriegsmaschinen auf Raupenketten gegeneinander. Luftschiffe und Flugmaschinen beherrschten den Himmel und überzogen die Erde mit einem Hagel von Bomben. Keine Ahnung, gegen wen Deutschland da Krieg führte, aber es war furchtbar. Ich stieg wieder ein. Die Dämpfe und der Rauch zwangen mich zu verschwinden. Doch anstatt heimzukehren, versuchte ich mein Glück in einer weiter entfernten Zukunft. Ich wollte wissen, was aus dem Krieg und aus den Menschen in Berlin geworden war. Ich gab also Heron den Befehl, ins Jahr 2015 zu reisen, also noch mal einhundert Jahre in die Zukunft.«
»Und?«
Humboldt presste die Lippen zusammen. Es schien ihm schwerzufallen, die richtigen Worte zu finden. Als er anfing zu sprechen, klang seine Stimme leise und voller Gram.
»Es war schrecklich«, sagte er. »So viele Jahre und es tobte immer noch Krieg. Oder war es schon ein neuer? Noch immer dröhnten die Kanonen. Alles sah gleich aus, nur der MaÃstab schien sich
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