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Chronos

Titel: Chronos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Charles Wilson
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Glas in seiner Hand. »Ich möchte euer Liebesglück nicht stören.«
    Tom gab die Gitarre weiter. Allmählich begriff er, dass er es mit einem streitsüchtigen Trinker zu tun hatte.
    Pass auf, dass du ihn nicht wütend machst. Aber Joyce schien ihren eigenen Ratschlag vergessen zu haben. »Lass das sein«, sagte sie. »Auf den Scheiß können wir gerne verzichten.«
    »Wir können darauf verzichten? Wer – du und Tom? Joyce und der Fernsehtechniker?«
    Soderman drängte sich dazwischen. »Du hast deinen Drink verschüttet, Lawrence. Komm, wir holen uns einen neuen. Wir beide, du und ich.«
    Millstein beachtete ihn nicht. Er wandte sich an Tom. »Du magst sie? Hast du Joyce gern?«
    »Ja, Larry«, antwortete er. »Ich hab Joyce sehr gerne.«
    »Nenn mich verdammt noch mal nicht Larry!«
    Augenblicklich wurde es still im Raum. Millstein bemerkte die Aufmerksamkeit aller. Er lächelte verkniffen. »Du weißt natürlich, was sie ist«, fuhr er fort. »Du musst es wissen. Es ist eine alte Geschichte. Sie kommen von Bryn Mawr in diesen dämlichen Klamotten – Ballettschuhe und Torerohosen. Sie machen alle auf Künstler, aber sie kaufen nur bei Bonwit Teller. Sie kommen hierher, um sich intellektuelle Inspiration zu holen. Das erzählen sie einem. Natürlich kommen sie nur hierher, um flachgelegt zu werden. Stimmt das nicht, Joyce? Sie sehen sich am liebsten in den Armen irgendeines neunzehnjährigen Negermusikers. Man kann in Westchester natürlich genauso leicht flachgelegt werden, aber nicht von jemandem, der auch nur halb so interessant ist.« Er bedachte Tom mit einem falschen Lächeln. »Also, wie interessant bist du denn?«
    »Im Augenblick«, sagte Tom, »bin ich wohl etwas interessanter als du.«
    Millstein schleuderte sein Glas zu Boden und ballte die Fäuste. Joyce rief: »Haltet ihn fest!« Soderman trat Millstein in den Weg und legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Hey«, sagte er. »Hey, beruhige dich. Es ist doch nichts. Hey, Larry ... ich meine, Lawrence ...«
    Joyce ergriff Toms Hand und zog ihn zur Tür.
    »Die verdammte Party ist zu Ende!«, brüllte Millstein.
    Sie traten hinaus in den Hausflur.
    »Komm mit zu mir«, sagte Joyce.
    Tom sagte, das wäre eine gute Idee.
    Sie zog sich mit der Unbefangenheit einer Katze aus.
    Fahles Straßenlaternenlicht drang durch das staubblinde Fenster herein. Er war zutiefst berührt von ihren kleinen Brüsten und den rosigen Brustwarzen, von dem niedlichen Dreieck ihrer Schamhaare. Sie lächelte ihn in der Dunkelheit an, und er entschied, dass er wirklich ein glückliches Leben führte.
    Sie zu berühren war wie ein tiefer, langer Schluck frischen klaren Wassers. Sie drängte sich ihm entgegen, als er in sie hineinglitt. Er spürte, wie sich in ihm längst eingerostete Federn spannten und dehnten. Sie hatte ihre Brille auf die Apfelsinenkiste neben dem Bett gelegt, und ihre Augen waren hingebungsvoll geweitet.
    Später, als sie in den Schlaf hinübertrieben, sagte sie zu ihm, er würde wie ein einsamer Mann Liebe machen.
    »Tue ich das?«
    »Heute hast du es getan. Bist du einsam?«
    »Ich war einsam.«
    »Sehr?«
    »Sehr.«
    Sie schmiegte sich an ihn, presste Brüste und Hüften gegen ihn. »Ich möchte, dass du hierbleibst. Zieh zu mir.«
    Er erlebte ein weiteres Mal die Empfindung des freien Falls. »Ist die Wohnung denn groß genug?«
    »Das Bett ist groß genug.«
    Er küsste sie in der Dunkelheit. Glückliches Leben, dachte er. Neunzehnhundertzweiundsechzig, eine warme Sommernacht.
    Es war nun auf dem ganzen Kontinent Nacht. Der Himmel war klar von den Rockies bis zur Küste von Maine, und die Sterne strahlten vom Himmel herab. Die Nation schlief, und ihr Schlaf war – wenn überhaupt – unruhig durch vage und ferne Träume. Durch einen Traum vom Mississippi. Einen Traum von einem Krieg, der noch nicht richtig angefangen hatte, irgendwo weit im Osten. Den Traum von dunklen Imperien, die an den Grenzen aufmarschierten.
    JFK schlief. Lee Harvey Oswald schlief. Martin Luther King schlief.
    Tom Winter schlief und träumte von Tschernobyl.
    Er trug diesen Klumpen der Unzufriedenheit durch die Nacht bis in den Morgen.
    Ich bin ein kalter Wind aus dem Land eurer Kinder, hatte er gedacht. Aber er sah Joyce an – als sie ein spätes Frühstück in einem billigen Restaurant am Ende einer schmuddeligen, engen, sonnenbeschienenen Straße einnahmen – und wollte es nicht mehr sein. Das war Geschichte, und Geschichte war gut, denn sie war nicht zu

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