Chronos
anderer das tut. Er sagt, er sei sich nicht ganz klar über sich selbst. Und zwar was mich betrifft.«
Tom dachte darüber nach, als die Tür aufging und ein paar Leute aus der Hitze des Abends von der Avenue B hereinkamen. Ihre Freunde. »Joyce!«, rief einer von ihnen laut.
Sie sah Tom bedauernd an, hob die Schultern, lächelte und bildete mit dem Mund ein Wort, das »später« heißen konnte.
Wie jeder Immigrant – jeder Flüchtling – passte er sich an seine neue Umgebung an. Es war unmöglich, in einem Zustand ständigen Staunens zu leben. Aber das Wissen, wo er war und wie er dorthin gelangt war, ging ihm nur selten aus dem Sinn.
Neunzehnhundertzweiundsechzig. Die Berliner Mauer war weniger als ein Jahr alt. John F. Kennedy residierte im Weißen Haus. Die Sowjets trafen Vorbereitungen, Raketen nach Kuba zu schicken, und legten den Grundstein zu einer Krise, die schließlich doch nicht in einen Atomkrieg mündete. In Europa brachten Frauen Kinder zur Welt, die durch die Wirkung von Contergan missgebildet waren. Martin Luther King setzte sich an die Spitze der Bürgerrechtsbewegung. In diesem Herbst würde es Unruhen in Oxford, Mississippi, geben. Und die Yanks würden in der World Series die Giants schlagen.
Vertrauliche Informationen.
Er wusste das alles; aber er fühlte sich noch immer von der Unterhaltung ausgeschlossen, die um ihn herum in Gang kam. Für eine Weile unterhielten sie sich über Bücher und Bühnenstücke. Soderman, der Romancier, der Tom den Tip mit der Fernsehreparaturwerkstatt gegeben hatte, äußerte seine kritische Meinung zu Ionesco. Soderman war ein netter Kerl; er hatte ein junges, rundes Eichhörnchengesicht mit einem Bürstenhaarschnitt auf dem Kopf und einem Bartsaum unter seinem Kinn. Er war durchaus sympathisch, aber er hätte ebenso gut Griechisch sprechen können. Ionesco war ein Name, den Tom schon mal gehört hatte, den er aber nicht einordnen konnte. Er war nicht mehr als eine vage Erinnerung an irgendeinen englischen Anfängerkurs. Desgleichen Beckett und Jean Genet. Er lächelte geheimnisvoll an den, wie er meinte, richtigen Stellen.
Dann lieferte Lawrence Millstein einen verbalen Leitartikel über die Unterschiede zwischen Folk und Jazz, und Tom hörte vertrautere Töne. Millstein war ein Vertreter der alten Schule und an diesem Tisch hoffnungslos unterlegen. Er hasste die Café-Folk-Szene und hegte nostalgische Gefühle für die mächtigen Götter des Tenorsaxophons.
Er sah auch entsprechend aus. Wenn Tom die Besetzung für eine Filmversion von On The Road hätte zusammenstellen müssen, hätte er sicherlich Millstein für eine Atmosphäre schaffende Nebenrolle ausgesucht. Er war hochgewachsen, schlank, dunkelhaarig, und in seinem Auftreten lag etwas Einstudiertes, Bemühtes. Joyce beschrieb ihn als »einen Raskolnikoff-Typen, zumindest gibt er sich alle Mühe, so zu erscheinen«.
Millstein hielt einen zwanzigminütigen Monolog über Charlie Parker und die »Qual der Negerseele«. Tom hörte mit wachsendem Unmut zu, schwieg aber – und trank. Er kannte die Musik, von der Lawrence sprach. Während seiner Trennung von Barbara und nach der Scheidung hatte er manchmal den Eindruck gehabt, dass Parker – und Thelonius Monk und der Miles Davis der Sketches-of-Spain-Ära und Sonny Rollins und Oliver Nelson – das Einzige gewesen war, was sie zusammengehalten hatte. Er hatte seine ramponierten Langspielplatten gegen die CD-Versionen von einigen dieser Aufnahmen ausgetauscht. Irgendwie war es eine Anomalie, dachte er manchmal, dass diese alten monophonen Aufnahmen von einer Lasertechnologie entziffert wurden. Aber die Musik drang weiterhin aus den Lautsprechern. Er liebte sie, weil es keine Musik war, bei der man in sein Bier weinen konnte. Sie war niemals traurig. Sie linderte das persönliche Leid, sie machte es einem bewusst, aber manchmal – an den guten Abenden – half sie einem, das Leid weit hinter sich zu lassen. Tom hatte immer diese seltsame Art und Weise bewundert, wie die Musik Traurigkeit in Freude verwandeln konnte, und es ärgerte ihn, anhören zu müssen, wie Millstein sich derart selbstgerecht darüber äußerte.
Joyce schaltete sich ein. »Niemand verdrängt Parker oder lehnt ihn ab. Die Folkmusik tut etwas völlig anderes. Sie unterscheidet sich vom Jazz. Es gibt keinen Streit zwischen beiden.«
Tom ahnte, dass sie diese Diskussion schon früher geführt hatten und dass Millstein seine persönlichen Gründe hatte, um das Thema zur Sprache zu
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