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Chronos

Titel: Chronos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Charles Wilson
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mit Eisenkern, Stahlchassis, Gehäuse aus Eichenholz, es war ein Vergnügen, daran zu arbeiten. Der Job war unterbezahlt und bot keinerlei Möglichkeiten zu einer Verbesserung, aber für Tom hatte er die Funktion einer Beschäftigungstherapie. Er konnte mit seinen Händen etwas Angenehmes tun und erhielt am Ende der Woche einen Scheck.
    Und dennoch – als der Reiz des Neuen schon längst hätte verflogen sein müssen – blickte er von seinen Lötarbeiten zum Wandkalender hoch, wo die Jahreszahl 1962 über einem Bild von einer üppig gebauten Frau in einem limonengrünen einteiligen Badeanzug zu lesen war, und er verspürte immer wieder den verrückten Drang, laut aufzulachen.
    Was bedeutete Zeit schon, außer einem trägen Marsch von den Gefilden der Jugend ins Reich der Gräber? Zeit war die Kraft, die Granit zerfallen ließ, die die Erinnerung verschlang und Kinder ins Greisenalter entführte – so unbeugsam wie ein zur Todesstrafe entschlossener Richter und so poetisch wie ein Panzer. Und doch war er fast dreißig Jahre weit auf einer Straße zurückgegangen, die eigentlich gar nicht existieren durfte, in die Vergangenheit, wohin niemand reisen kann.
    Er war nicht jünger, als er es vorher gewesen war, und er war in keiner Weise unsterblich. Aber die Zeit war überlistet worden, und das machte ihn glücklich.
    »Du starrst ständig auf den Kalender«, sagte Max. »Ich glaube, du bist in das Girl verliebt.«
    »Bis über beide Ohren«, sagte Tom.
    »Das ist der Kalender von Mirvish's. Sie nehmen jedes Jahr das gleiche Foto. Jeden Sommer, seit 1947, das gleiche Girl im gleichen Badeanzug. Wahrscheinlich ist sie schon längst eine alte Dame.«
    »Sie ist eine Zeitreisende«, sagte Tom. »Sie ist ewig jung.«
    »Und du bist ein Spinner«, erwiderte Max. »Bitte, geh wieder an die Arbeit.«
    Gewisse andere Begleiterscheinungen dieser Zeitreisegeschichte waren ihm nicht entgangen.
    Es war 1962 in New York. Deshalb war es überall im Land 1962 – tatsächlich auf der ganzen Welt. Daher war es auch in Belltower 1962, und seine Eltern lebten noch.
    Irgendwo im großen Theater – vielleicht bei Schritt Nummer achtundvierzig oder dreiundsechzig oder hunderteinundzwanzig im Tunnel zwischen der Post Road und Manhattan – war ein Holzlaster auf einer Bergstraße rückwärts geschlingert. Eine hellblaue Limousine war über eine Böschung auf den Highway geworfen worden. Zwei Körper erwachten zitternd zum Leben, als das Armaturenbrett sich von den Sitzen löste und als der Motor zurück unter die Motorhaube sprang.
    Im Jahr 1962 hatte in Belltower soeben ein junger, praktischer Arzt namens Winter eine Praxis in einer vorwiegend von der Mittelschicht bewohnten Gegend im Norden der Stadt eröffnet. Seine Frau hatte ihm zwei Jungen geboren. Der jüngere, Tommy, feierte im kommenden November seinen vierten Geburtstag.
    Sie alle wohnen in dem großen Haus an der Poplar Street, dachte Tom, wo Daddys Praxis im Parterre liegt und die Wohnräume der Familie im ersten Stock. Wenn ich dorthin führe, könnte ich sie sehen. Lebensgroß.
    Er stellte sie sich vor: seinen Vater in einem schwarzen Sonntagsanzug oder in seinem weißen Arztkittel, seine Mutter in einem Kleid mit buntem Blumenmuster. Und zwischen ihnen, knapp einen Meter groß in einem Spielanzug, etwas Unvorstellbares – er selbst.
    Eines Vormittags, als Joyce im Restaurant arbeitete und er zu Hause war und sich ein wenig einsam fühlte, nahm er den Telefonhörer von der Gabel und wählte die Nummer der Fernvermittlung. Er verlangte eine Verbindung mit der Praxis von Dr. Winter in Belltower, Washington, in der Poplar Street. Das Rufzeichen ertönte dreimal, ein leises Summen, und eine Frau meldete sich. Die Stimme meiner Mutter. Es war ein lähmender Gedanke. Was sollte er zu ihr sagen?
    Aber es war nicht seine Mutter. Es war die Sprechstundenhilfe seines Vaters, Miss Trudy Velasquez, an die er sich schwach erinnerte. Eine imposant aussehende Spanierin mit orthopädischen Schuhen und einem Atem, der nach Pfefferminz roch. Dr. Winter sei unterwegs zu einem Hausbesuch, sagte sie, und mit wem sie überhaupt spreche?
    »Es ist nichts Dringendes«, sagte Tom. »Ich versuche es später noch einmal.«
    Viel später. Vielleicht nie. In diesem Akt lag etwas Perverses. Es erschien irgendwie falsch, diesen unschuldigen Haushalt mit einem anonymen Anruf zu stören – zu verwickelt und ödipal, zu seltsam.
    Dann dachte er: Aber ich muss sie anrufen. Ich muss sie warnen.
    Sie warnen,

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