Chronos
die er vernachlässigt hatte: an den Tunnel, an die Maschinenkäfer, an ihre Warnung.
Er dachte an den Geröllhaufen im Keller des Hauses in der Nähe des Tompkins Square. Jemand war vor ihm dort gewesen, jemand, der gefährlich war. Aber Tom hatte diesen Ort erreicht und sicher wieder verlassen, und seine Anonymität war in einer Stadt, die so groß war wie New York, garantiert – oder etwa nicht?
Er redete es sich ein. Dennoch, als er über die Eighth Avenue nach Osten in Richtung von Millsteins Apartment im East Village spazierte, verdichtete sich seine Unsicherheit zur festen Überzeugung, dass er verfolgt wurde. Er blieb auf der Straße vor Millsteins Mietshaus stehen und wandte sich um. Puertoricanische Frauen drängten sich zwischen den Hausaufgängen und den Ladenfronten. Drei Kinder überquerten die Straße an einer Ampel. Zwei weiße Amerikaner waren zu sehen: eine große blasse Frau, die einen Kinderwagen schob, und ein Mann mittleren Alters, der eine braune Papiertüte unter dem Arm hielt. Wer von diesen Personen beobachtete ihn?
Wahrscheinlich niemand. Wahrscheinlich sind es nur meine Nerven, dachte Tom. Und wahrscheinlich auch ein wenig schlechtes Gewissen. Ein schlechtes Gewissen wegen dem, was er zurückgelassen hatte. Ein Schuldgefühl wegen dem, was er gefunden hatte. Weil er sich an diesem seltsamen Ort in jemanden verliebt hatte.
Er trat vom Bürgersteig herunter und direkt vor ein sich näherndes Taxi. Der Fahrer drückte auf die Hupe und wich nach links aus, wobei er ihn nur um wenige Zentimeter verfehlte. UNBEKANNTER MANN ÜBERFAHREN – vielleicht war auch das Geschichte.
Nach einigen verlegenen Höflichkeitsfloskeln zogen sie zu Stanley's, wo Millstein etwas trank und sich entspannte.
Trotz Joyces Warnung unterhielten sie sich über Musik. Es stellte sich heraus, dass Millstein ein eifriger Jazzfan war, seit er, »als grüner Junge aus Brooklyn«, Ende der Vierzigerjahre hier angekommen war. Er war ein alter Village-Hase. Er hatte Jack Kerouac ein- oder zweimal persönlich getroffen – eine Feststellung, die Tom erneut andächtig staunen ließ. Giganten hatten hier gelebt, dachte er. »Allerdings«, fügte Millstein hinzu, »ist die Szene längst tot.«
Joyce erwähnte ihre Freundin Susan. Susan hatte wieder aus dem Süden geschrieben, wo sie wegen ihrer Sympathien mit der SNCC Morddrohungen erhielt. Ein besonders eifriger Vertreter der Ewiggestrigen hatte ihr ein Paket mit säuberlich verpacktem Pferdemist vor ihre Motelzimmertür gelegt.
Millstein zuckte mit den Schultern. »Das ist mir alles viel zu politisch. Es ödet mich an. Mir hängen die Protestsongs zum Hals heraus, Joyce.«
»Und ich habe diese ständige pseudo-zenhafte Nabelschau satt«, sagte Joyce. »Da draußen existiert schließlich eine reale Welt.«
»Eine Welt, die von Männern in dicken Straßenkreuzern regiert wird, die wenig für Musik übrig haben. So weit es die Welt betrifft, ist Gitarrespielen die Beschäftigung einer unbedeutenden Minderheit.«
Joyce starrte in ihr Bierglas. »Vielleicht hat Susan dann ganz recht. Ich sollte wohl etwas Wirkungsvolleres tun.«
»Was, zum Beispiel? Für die Freiheit predigen? Mit Spruchbändern auf die Straße gehen? Im Grunde, weißt du, ist es nicht mehr als Gitarrespielen. Es wird toleriert, solange es im Machtgefüge einen Zweck erfüllt. Und wenn sie es schnell stoppen können, sobald sie es nicht mehr brauchen.«
»Das ist wohl das Zynischste, das ich je aus deinem Mund gehört habe, Lawrence. Das macht mir einiges klar. Hat Gandhi nicht auch mal gesagt, dass man mit der Wahrheit die Mächtigen besiegen kann?«
»Die Mächtigen scheren sich einen Dreck darum, Joyce. Das sollte doch mittlerweile deutlich geworden sein.«
»Wie sieht dann die Alternative aus?«
» Il faut cultiver notre jardin. Oder schreib ein Gedicht.«
»Wie Ginsberg? Ferlinghetti? Das ist doch ziemlich starker politischer Tobak.«
»Du begreifst nicht ganz. Sie sagen, dies hier ist hässlich, und das verabscheue ich – und dies dort ist das Geheimnis, das darin verborgen ist.«
»Das Geheimnis?«
»Die Schönheit, wenn dir das lieber ist.«
»Damit macht man aus Dreck Kunst«, kommentierte Joyce.
»So könnte man es sagen.«
»Während Menschen verhungern? Während Menschen geschlagen, misshandelt werden?«
»Ehe ich verhungere«, sagte Millstein. »Ehe ich geschlagen werde. Ja, vorher schaffe ich lieber diese kunstvollen Objekte.«
»Und davon soll die Welt besser werden?«
»Sie
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