Chucks Welt
Steve?«
»Nein, das war’s. Er, ach nein, sie trägt ein Halsband, aber die Huntingtons können kaum etwas tun außer hoffen, dass sie von selbst wieder nach Hause kommt oder dass irgendwer sie findet und zurückbringt.«
Ich stelle mir vor, wie Amy heute von der Schule heimkommt und da ist keine Buttercup, die durch die Hundetür rennt und ihr entgegenstürmt. Ich möchte sie so gern aufmuntern, sie zum Lachen bringen, irgendwas tun .
Aber wie immer bin ich vollkommen hilflos.
G rundprinzip der KVT, wie mir Dr. S. immer wieder erklärt, ist es, mich an den Stress zu gewöhnen, den ich verspüre, wenn ich meinen Zwängen nicht nachgebe. Irgendwann, sagt sie, entsteht der Stress dann erst gar nicht mehr. Lexapro senkt den Ausgangsstresspegel angeblich gerade so weit, dass ich überhaupt in die Therapie einsteigen kann. Manchmal habe ich den Eindruck, es funktioniert, und manchmal überhaupt nicht. Im Augenblick ist es wirklich hart.
Ich liege im Bett und mühe mich ab, nicht pinkeln zu gehen. Vor dem Schlafengehen war ich noch mal. So richtig ausgiebig und lang, ich habe extra länger abgewartet und alles rausgelassen. Meine Blase ist leer. Trotzdem bin ich erst seit acht Minuten im Bett und habe das Gefühl, ich müsste schon wieder pinkeln. Es fühlt sich an, als wäre doch noch was drin, und wenn ich nicht aufstehe und aufs Klo gehe, kann ich nicht einschlafen.
Ich versuche, nicht daran zu denken. Stattdessen denke ich an Amy. Auch wenn Dr. S. sagt, ich müsste das alles für mich tun, stelle ich mir unwillkürlich immer den Moment vor, in dem ich Amy verkünden kann, dass ich geheilt bin – und kein hundehassender Irrer mehr. Das wird ein großer Tag. Ich frage mich, ob Amy wohl auchnoch wach ist und an Buttercup denkt. Bestimmt guckt sie gerade furchtbar traurig aus dem Fenster und so.
Dann muss ich wieder ans Pinkeln denken. Schnell pinkeln gehen, ein Mal, und alles ist gut. Nein. Nicht nachgeben. Ich drehe mich auf den Bauch. Das hilft ein bisschen.
Ich träume, dass Amy und ich an einem Teich zusammen Steine hüpfen lassen, wobei der Teich oben auf einem Cupcake ist.
Ich wache auf. Es ist Morgen. Ich bin die ganze Nacht nicht pinkeln gewesen! Keine Ahnung, wann ich das zuletzt gemacht habe, vielleicht nie. Der Wecker klingelt, als ich mich aus dem Bett wälze. Jetzt muss ich wirklich pinkeln. Fühlt sich super an.
Ein Tag für grüne Chucks: hoffnungsvoll.
Draußen ist es warm. Vor der Schule macht der Schülerrat heute einen Kuchenbasar. An einem der Tische bedient Stacey. Ich muss mit Geld umgehen, Essen anfassen und mit Stacey klarkommen. Ein Hattrick von Herausforderungen. Ich nehme ihn an.
Ich nähere mich dem Tisch. Stacey schenkt mir ein höfliches Lächeln, aber es geht ihr nur um mein Geld, logisch. »Hallo, Stacey«, sage ich. Dass ich über die Fähigkeit des Sprechens verfüge, scheint sie zu überraschen.
Sie wechselt in einen überdrehten Verkaufstonfall. »Willst du unsere Klasse beim Fundraising für die Abschlussfahrt unterstützen?«
Aha, es geht also wieder um diese beschissene Abschlussfahrt. Noch ein Trigger auf der Liste, dem ich mich stellen muss. Wie heißt das, wenn bei einem Hattrick noch eins draufgelegt wird? Vierer-Trick oder was? Egal, hör auf, dich zu drücken.
Ich betrachte die Auswahl an Keksen und Kuchen. Auf der Suche nach einer Sorte, die möglichst wenig abstoßend wirkt, höre ich in Gedanken die mahnende Stimme von Dr. S.: Es geht nicht schnell oder leicht. Ich beschließe, mir den abstoßendsten vorzunehmen. Es gibt da was mit Karamell, das total krümelig und weich wirkt.
»Ich will den da«, sage ich ziemlich energisch.
»Macht zwei Dollar fünfzig«, erklärt Stacey.
Ich werfe einen Blick in ihren Ausschnitt. Heiliger Himmel! Die Typen im College werden jede Menge Spaß damit haben.
Ich ziehe einen Fünfer aus meiner Geldbörse. Rieche den Dreck darauf. Spüre, wie die Farbe auf meine Finger abfärbt. Und reiche Stacey den Schein. Ihre Finger streifen meine. Sie selbst nimmt das wohl kaum wahr, aber für mich ist es eine fünfte Herausforderung – ich hasse es nämlich, die Hände anderer Leute zu berühren. Sie gibt mir die beiden versifftesten Einer-Noten heraus, die ich je gesehen habe, und dazu zwei Vierteldollar-Münzen. Münzen sind am schlimmsten! Es kommt mir vor, als würde Stacey mich zum Schutzheiligen aller Durchgeknallten weihen.
»Danke«, sage ich, stecke das Geld ein, atme tief durch und greife nach dem Kuchen.
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